Ruhrfestspiele eröffnet
Foto: Das Ensemble der Eröffnungspremiere um Kathryn Hunter © Marc Brenner Text:Detlev Baur, am 4. Mai 2023
Mit Olga Tokarczuks Roman „Gesang der Fledermäuse” wurden die diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen eröffnet. Schriftstellerin Anne Weber hielt eine mahnende Festrede: Notwendige Veränderung kann nur über den Sieg des inneren Feindes in uns selbst gelingen.
„Rage und Respekt“ lautet das Motto der Ruhrfestspiele 2023. Sie wurden gestern eröffnet, mit erfreulich knappen Reden der beiden Gesellschafter, Stadt und Deutschem Gewerkschaftsbund, sowie der Kulturministerin des Landes und des Intendanten. Höhepunkt des ersten Teils war aber die Festrede der Schriftstellerin Anne Weber. Sie hat mit „Annette, ein Heldinnnenepos“ ein (mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetes und schon mehrfach im Theater inszeniertes) dichterisches Werk über eine widersprüchliche, reale Heldin geschrieben, das durch die Kraft der rhythmischen Sprache einem Frauenleben des 20. Jahrhunderts künstlerisch große Gültigkeit verleiht. In ihrer sorgfältig komponierten Rede wandte sich die Autorin zunächst gegen bösartige, aber auch gegen wohlgemeinte Schubladen für uns „Einzelwesen“: „Sie sind alle immer noch etwas anderes“ als Frau oder Dunkelhäutige oder Arbeitnehmer…
Rage und Wut auf die Gesellschaft, so Weber, helfen letztlich nicht weiter, auch wenn wir uns zu Recht über gierige Mächtige oder das ungerechte System empören. Immer seien wir Einzelwesen auch Teil des Gefüges und – ganz besonders in einer Demokratie – mitverantwortlich für das Ganze. Warum sind wir leicht empört, aber nie auf uns selbst wütend? Die angesichts der Klimakrise dringend notwendigen Veränderungen werden, so Weber, nicht durch eine zwangvoll agierende Revolution stattfinden, sondern nur durch den Sieg über den inneren Feind in uns selbst. Statt Gewalt gegenüber den anderen empfahl sie die Zuwendung in Richtung unserer unmittelbaren Nachbarn.
Eine illustriert-geheimnislose Eröffnungsinszenierung
Webers komplexe, nicht unbedingt mitreißenden, jedoch sehr fundierte Gedanken zum Zusammenhalt der Gesellschaft stellten also die Rage aus dem Festivalmotto ins Zentrum. Und das gilt auch für Olga Tokarczuks Roman „Gesang der Fledermäuse“, der unter seinem englischen Titel „Drive your Plow over the Bones of the Dead“ von Simon McBurneys Complicité die Eröffnungsinszenierung des Festivals darstellte. Um die großartige Kathryn Hunter herum agieren neun weitere Akteur:innen als Tiere, Jäger, Polizei oder Verbündete der eigenwilligen Lehrerin; in einer abgelegenen Gebirgsgegend begleitet diese die gewaltsamen Tode von Männern, die sich gegenüber der Natur rücksichtslos verhalten hatten. Nach fast drei Stunden wird dann klar, dass die Protagonistin gleichsam als Stellvertreterin der Tierwelt die gewalttätigen Männer umbrachte. Die geheimnisvolle Geschichte wird souverän, aber auch illustriert-geheimnislos erzählt; mit Hilfe von Lichteffekten, Videoeinspielungen, stimmungsvollem Sound und hingebungsvoll in diversen Rollen um die schrullige, freundlich-kratzbürstige, kleine Frau agierendem Ensemble erzählt McBurney die Romanhandlung nach.
Etwas fremd wirkt die weitgehend bruchlose Ästhetik der Inszenierung, die auf Sprache und deren szenische Untermalung baut. Gerade der Reichtum an internationalen Theatersprachen ist allerdings eine der Stärken des Festivals, dieses Jahr wird ein Gastspiel aus Tibet zu sehen sein. Ein anderes Pfund des 75 Jahre alten Festivals ist der Dialog zwischen Theaterkunst und einem Publikum, das stärker als in anderen Theatern oder Festivals die Gesellschaft in ihrer Breite repräsentiert. Unter der Intendanz von Olaf Kröck gelingt hier zunehmend ein Dialog, der ein anspruchsvolles Programm mit Unterhaltung und sensiblem Diskurs wichtiger gesellschaftlicher Themen verbindet; schon am ersten Abend, nach Reden und Eröffnungspremiere, war die Begeisterung groß. Am Anfang standen die Dichterinnen Anne Weber und Olga Tokarczuk im Zentrum. Es folgt beispielsweise die Uraufführung von Nino Haratischwilis neuem Drama. Lesen können werden Sie darüber im Juli-Heft der Deutschen Bühne.