Sängerin in buntem Licht

Hörgewohnheiten erweitern

Das ORBIT Festival für aktuelles Musiktheater Köln 2024 hat wenig mit Musik in ihrer klassischen Form zu tun. Dafür erweitert es Hörgewohnheiten und kombiniert Kunst-Genres.

Was ist das überhaupt, „aktuelles Musiktheater“? „Die Schwerkraft des Geistes lässt uns nach oben fallen.“ Mit diesem Zitat von Simone Weil leiten die Festivalleiterinnen des ORBIT Festival, Christina C. Messner und Sabrina Reitmayer ihr Grußwort. Die Projekte sind „vielsinnlich, kollektiv, inklusiv, divers, kooperativ“, es geht um das Ungehörte, das neu Gedachte. Es geht nicht um die Musik im klassischen Kanon, ihre Entwicklung, ihre Formen. Es geht um neue Zusammenhänge auf dem Fundament der Musik.

COLD SWEAT

Cold Sweat“ etwa lebt von dem Raum, einer Privatwohnung; von der Präsenz des Protagonisten Daniel Gloger, einem Sänger, der hier nicht singt; von dem alten Film, der mit Projektionen einer Szene im Mittelpunkt steht: Einer, der gerade stirbt, bedroht einen andern, der eine Frau ermorden will. Ein Stillstand von aggressiver Gewalt. Daniel Gloger liegt am Anfang als Leiche im inszenierten Tatort auf dem Boden. Dann erhebt er sich, setzt sich und bläst in eine mit einem Mikrofon präparierte Pistole. Und wird immer wieder noch weißer und wieder mehr zur Leiche geschminkt.

Sein Atem ist der Mittelpunkt der geräuschhaften Musik. Diese Leiche stirbt, ein – durchaus grauenhaftes – Paradox. Wenn Gloger seine Pistole aufs Publikum richtet, zwanzig Menschen, eng zusammengedrängt, fürchtet man sich. Und man hat Mühe, die sehr große Spannung, die von der ungewöhnlichen Versuchsanordnung ausgeht, eine Dreiviertelstunde auszuhalten.

Pistole auf Bildschirm, unten sterbender Mensch

Cold Sweat © Sophia Hegewald

21 SONGS IN A PUBLIC SURROUNDING

Auch in den „Songs in a Public Surrounding 16-21“ geht es nicht um Gesang und Musik. Die Sängerin Anna Clare Hauf erzählt von Erfahrungen unter der Erde, in U-Bahn-Stationen in Prag, Frankfurt, Budapesst, Bukarest, Belgrad und Bratislava (obwohl die letzten zwei Städte keine U-Bahn haben). Und Hannes Seidl spielt Musik dazu, als Untermalung, die auf Tonaufnahmen von Hauf beruht. Es geht um „Hall“ als Musik, als Geräusch, als Atmosphäre für Menschenäußerungen, musikalische Ortsprofile. Wir haben sehr gern zugehört, aber die Musik erreicht uns fast nicht. 

FRAUKE AULBERT

Frauke Aulbert, eine Stimmkünstlerin, eine „Extremvokalistin“ inszeniert sich selbst im digitalen Social Media-Alltag, im „Voice Lab“ mit experimentellen Singtechniken. Was mit Stimme möglich ist, zeigt sie im ironischen „daytime-routine“-Video mit mühelos klingendem Obertongesang, Beat Boxing, bulgarischem Chorgesang und das sie während der Stimmakrobatik lässig Hula tanzt, in einer One-person-Show multitaskt, wirkt wie die einfachste Sache der Welt. Es ist eine Darstellung der vielfältigen (!) Ausdrucksmöglichkeiten und -ästhetiken von Stimme, ein Musiktheater für das Stimmorgan als Protagonisten sozusagen.

Sängerin filmt sich selber mit Handy, dahinter groß auf Bildschirm zu sehen

Frauke Aulbert © Sophia Hegewald

PROVIANT

In „Proviant“ von *POLAR PUBLIK ist Musik auf den ersten Blick nicht der Anlass: Eine große Tafel ist gedeckt, 15 Gäste sind geladen, zwei Stunden Mahlzeit zu halten. Einleitend wird etwas Musik gespielt, die schon mittags ein Dinner-Feeling verbreitet. Das Publikum ist gleichzeitig Darsteller:in: Wie sich das Zusammensein entwickelt, ist ganz von ihm abhängig. An die Hand gelegt sind mögliche Hilfsmittel, etwa Karten, auf denen Fragen zum übergeordneten Thema „Mangel“ stehen: Wenn das ein Geräusch oder Geschmack wäre, wie würde das klingen/schmecken? Mangel und Fülle im menschlichen Zusammensein führen weiter zu Empathie im Persönlichen, Kulturellen, auch Politischen.

Es entspinnen sich Gedanken und Gespräche darum, was vielleicht fehlt, was (Über-)Fülle ist (materiell und nicht materiell). Aus dem gegenseitigen Zuhören kristallisiert sich überhaupt ein aufmerksames, emphatisches Hören heraus. Welches Geräusch vermissen wir gerade und wie können wir es mit dem gegenwärtigen Umfeld imitieren? Zusammensein ist zuhören, ist hören und auch Lärm machen – das ist eine bleibende Erfahrung.

Menschen sitzen an einem Tisch

PROVIANT © Sophia Hegewald

A SINGTHING

„Oper übersetzen“ – das kündigt Benjamin van Bebber in der in Gebärdensprache gedolmetscht Einführung zu „A Singthing“ an. Das künstlerische Forschungsprojekt [in]operabilities verknüpft Oper als Kunstform mit der Frage nach ihrer Zugänglichkeit. Es geht um ein Kommunizieren von Musik durch primär nicht-hörbare Sinneseindrücke: Vibration, Lichteffekte, Farben, körperlicher Ausdruck, Luftstöße – und aber auch Geräusche. Athena Lange, Sabrina Ma und Ladislav Zajac visualisieren gestisch und tänzerisch, deuten für Pavarottis Version von „Nessun dorma“ den Paukenwirbel mit den Schlägern über dem Instrument nur stumm an, bis beim Höhepunkt dann doch sehr laut draufgeschlagen wird. Francesca Caccinis „Lasciatemi qui solo“ wird mit extrem mimischem Ausdruck performt und dann ist da noch Maria Callas in Schwarz-Weiß-Aufnahme, zwar stumm, und doch in vollem Ausdruck. Die performative Ausdruckskraft kommt an, fasziniert und ist (wie nicht wenige Opern auch) anstrengend. Wird Musik zum Gefühl oder Gefühl zu Musik? – Das steht über dem Werk als Message und führt zum Abweichen streng manifestierter Wahrnehmungsmuster.

Mensch mit erschrockenem Gesichtsausdruck

A SINGTHING © Sophia Hegewald

Das alles ist also aktuelles Musiktheater? Keine Handlung, nirgends, starke Athmosphären, überall. Erweiterte Hörgewohnheiten, Kombinationen mit anderen Kunst-Genres: Es geht um Individuen und Gruppen, vor allem geht es ums gemeinsame Erleben, die vierte Wand wird aufgebrochen. Und das Publikum, das jünger, diverser und intellektueller ist als beim klassischen Musiktheater, begreift sich als Teil der Sache und genießt es. Davon kann man auch lernen.