Die Welt braucht mehr Dada!
Foto: Maren Schwier © Andreas J. Etter Text:Michael Kaminski, am 1. Juni 2023
Die Opernsängerin Maren Schwier ist im Ensemble des Staatstheaters Mainz und arbeitet gern spartenübergreifend. Von künstlicher Intelligenz lässt sie sich ebenso musikalisch beeinflussen wie durch Projekte mit Gebärdenpoesie.
Ich bevorzuge Schwellen“, antwortet Maren Schwier auf die Frage nach dem für sie künstlerisch reizvollsten Aufenthaltsort. Immer wieder dringt die Sopranistin deshalb zu dem vor, was sich am Übergang vom Musik- zum Sprechtheater und vom Tanz zur Performance abspielt. Vokal erkundet sie dabei die Metamorphosen des Gesangs zum Elektronischen, Instrumentalen und Geräuschhaften. Schwellen wie diese werden zu Schwiers Bühne.
Mit dem Musiktheaterkollektiv Untere Reklamationsbehörde aus der Komponistin Julia Mihály und der Dramaturgin Maria Huber, dem Komponisten Tobias Hagedorn und dem der zeitgenössischen Kammermusik verschriebenen ensemble hand werk realisierte sie in Offenbach 2019 die „Olimpia Code(s)“, eine als Musiktheater definierte Performance. Für das Projekt schufen Julia Mihály und Tobias Hagedorn eine Partitur, in der Instrumentalmusik, Elektronik und Singstimme die Grenzüberschreitung auf das jeweils andere Terrain riskieren. Der menschengestaltige Automat aus „Les contes d’Hoffmann“ gab dem Stück den Titel. Er fungiert als Prototyp künstlicher Intelligenz wie Sprachassistenzen und Social Bots. Mit wachsender Selbstverständlichkeit akzeptieren Menschen sie als Kommunikationspartner und zeigen sich bereit, Entscheidungen an sie abzutreten. Schwier nahm es mit dem auf, was vielen inzwischen als blanker Horror gilt: Algorithmen. Jene Software, die nach oft undurchschaubaren Kriterien unter anderem in internationalen Finanztransaktionen binnen Millisekunden Abermilliarden Dollar oder Euro verschiebt. In „Olimpia Code(s)“ steuerten sie das der Sopranistin zugespielte elektronische Klangmaterial.
Maren Schwier © Melina Rupp
Wie sie sich dazu verhielt, blieb ihr überlassen. Schwier entschied, ob sie die Zuspielung aufgriff, um mit ihr vokal zu arbeiten, oder sie ablehnte. Die Sängerin behielt die Freiheit, selbst zu bestimmen, bis zu welchem Grad sie sich auf Elektronik und Virtualität einließ und sich in sie hineinbegab. Schwier entschied über die Intensität des Zusammenwirkens von menschlicher Inspiration und Stimme mit Virtualität und Elektronik. Offen und voller Entdeckerinnenfreude ließ sich die Sängerin auf ihren Part ein. Künstliche Intelligenz wird sich, dessen ist Schwier gewiss, auf das Menschenbild auswirken. In allen damit verbundenen Wandlungen Freiheitsoptionen zu erkennen treibt sie an.
Forderung nach Inklusion als Kunstanspruch
Dabei begreift Maren Schwier vermeintliche Einschränkungen immer als Herausforderung. Im ensemble in transition arbeitet sie mit der Tänzerin, Schauspielerin, Choreografin und Performerin Kassandra Wedel zusammen. Wedel ist taub. Um sich mit ihr zu verständigen, erlernte Schwier die Gebärdensprache. Das Quartett komplettiert sich mit einer Flötistin und einer Cellistin. In der 2021 auf Basis einer Partitur des Mainzer Komponisten Alexander Reiff am Staatstheater Mainz uraufgeführten Performance „Echo:Reflexion“ interagieren die Taube und die Hörenden völlig selbstverständlich. Wenn Musik der Bewegung folgt und Bewegung der Musik, wachsen Instrumentalklang, Vokalpartie und Tanz auch durch die Gebärdensprache vermittelt zusammen. Aus scheinbarer Begrenztheit geht so ein neues faszinierendes Format hervor. Auf der Bühne begreifen Schwier und ihre Mitstreiterinnen die Forderung nach Inklusion allererst als Kunstanspruch. Und selbst in der Oper lässt sie sich einlösen: Richard Ayres’ „Peter Pan“ am Mainzer Staatstheater unter Hermann Bäumers musikalischer Leitung und in Nina Kühners Regie trat den Beweis an. Schwier verkörpert Wendy, während die Elfe Tinkerbell mit der tauben Adriane Große besetzt ist. Die zahlreichen Menschen ohne Gehör im Publikum beweisen, wie sträflich der Verlust wäre, wenn das Musiktheater sie außer Acht ließe. Mögen künstliche Intelligenz und Inklusion sehr unterschiedliche Bezirke abstecken, Schwier trägt beherzt, intellektuell wach und künstlerisch dem Neuen zugewandt dazu bei, vormals hermetisch abgeriegelte Grenzen durchlässig zu machen.
Maren Schwier © Andreas Etter
Das liegt zum guten Teil in Schwiers Biografie begründet, in ihrer Familie wuchs sie mit gelebter Inklusion auf. Maren Schwier ist gebürtige Ostwestfälin. Ihr Herforder Gymnasium liegt gleich neben dem Stadttheater, einem Bespielhaus, das auch der Schultheater- und der Musical-AG, in denen sie mitwirkte, zur Verfügung steht. Musiktheater-Eindrücke gewann sie zudem im benachbarten Bielefeld. An der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst studierte sie Gesang, erwarb 2017 ihren Master bei Ursula Targler-Sell. Längst war sie zu dieser Zeit nicht allein an Hochschulproduktionen beteiligt, sondern hatte bereits auf der Bühne des Wiesbadener Staatstheaters und der Frankfurter Oper gestanden. 2016 wurde sie ins „Junge Ensemble“ am Staatstheater Mainz aufgenommen, seit 2018 gehört sie dem festen Ensemble des Hauses an. Sie wird in Partien des Standard-repertoires wie Gretel in Humperdincks Märchenoper und „Fledermaus“-Adele besetzt, oft aber übernimmt sie Zeitgenössisches, so die Aphrodite in der Uraufführung der „Argo“ des Komponisten José María Sánchez-Verdú. In dieser Spielzeit erlebt man sie unter anderem als „Sehr hohen Sopran“ in Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexico“. Die musikalisch bezwingende und szenisch bildgewaltige Produktion unter Hermann Bäumers Dirigat und in Elisabeth Stöpplers Regie geht mit dem auf der Bühne des Großen Hauses platzierten Publikum beinahe auf Tuchfühlung. Doch Schwier weiß die Nähe zu schätzen. Gegenwärtig sieht sie der Titelpartie in Peter Maxwell Davies’ Monooper „Miss Donnithorne’s Maggot“ entgegen. Premiere ist Anfang Juli. Auch zukünftig wirkt sie in freien Ensembles mit, betrachtet deren Arbeit und ihr festes Engagement als wechselseitige Ergänzung. So wirkt sie mit dem Perkussionisten Max Gaertner im blank space ensemble zusammen; das ungewöhnliche Duo hat primär zeitgenössische Werke im Repertoire.
„Man muss mehr wagen, als man sich traut“
Zumal sich Rückkopplungseffekte einstellen, aus denen Perspektiven auch für die Arbeit an einer institutionalisierten Bühne wie dem Staatstheater Mainz erwachsen. Einen kräftigen Impuls dazu gab die Gründung des nach Schnitzlers gleichnamigem Einakter benannten Grünen Kakadus. Während im Erdgeschoss der dem Großen Haus unmittelbar benachbarten Immobilie das Theaterrestaurant angesiedelt ist, führt eine Treppe in die zu experimentellen Formaten einladende Kakadu-Bar. Der Eröffnungsabend im September 2021 thematisierte unter dem Titel „Schöne Welt, du gingst in Fransen“ Glanz und Elend der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Schwier setzte auch hinsichtlich der Garderobe einen ganz eigenen Akzent: Für einen ihrer Auftritte wählte sie jenes von einem Freund als Hommage an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ gefertigte Kostüm, das sie von Umzug zu Umzug begleitet. In Stefanie Hiltls die Geschichte des Rundfunks aufarbeitenden Stückentwicklung „Radio Star“ gab sich Schwier in Gestalt der „Zuhörerin“ den Wellen aus dem Äther hin. Gemeinsam mit dem Schauspieler Denis Larisch entwarf und realisierte sie den im November 2021 uraufgeführten Dada-Abend „Fisches Nachtgesang“. Ganz wesentlich bestimmte Kurt Schwitters’ „Ursonate“ das Programm. Virtuos und rhythmisch präzise wie ein Uhrwerk traktierte Maren Schwier alias „Lady Dada“ Einzelbuchstaben, Konsonantencluster, Silben samt Nonsenswörtern gleichermaßen ernsthaft und lässig, wie es nur hintergründige Komik vermag. Ihrer auf der Schwelle zum Circensischen siedelnden „Stimmakrobatik“ – Schwier schätzt das Wort – eignen in „Fisches Nachtgesang“ bisweilen geradezu clowneske Züge. Maren Schwier erklärt, die Welt brauche „unbedingt“ mehr Dada. Dessen fröhliche Anarchie helfe Freiheit und Souveränität behaupten.
Die künstlerische Devise dieser Ausnahmesängerin lautet: „Man muss mehr wagen, als man sich traut.“ Bemerkenswert ist, wie vollständig bei ihr Wahlspruch und Projekte übereinstimmen. Doch warum nur dieser Hang zur Schwelle? Aus Übergängen erwachsen Freiräume, die sich jeder vorschnellen Definition entziehen, die Spielräume für das Poetische sind. Womöglich eines Tages auch solche, denen Schwiers Sportbootführerschein zugutekommen wird. Die Option darauf jedenfalls amüsiert die Sängerin.
Maren Schwier, geboren in Herford, ist seit 2018/19 Ensemblemitglied am Staatstheater Mainz. Sie absolvierte ihr Gesangsstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Ab 2016/17 war Schwier Mitglied des Jungen Ensembles am Staatstheater Mainz. Ihr Operndebüt gab sie am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Schwier hat eine große Leidenschaft für zeitgenössische Kompositionen und Beteiligung an Uraufführungen zeitgenössischer Werke. Sie macht viele eigene Soloperformances und arbeitet mit diversen Instrumentalensembles und eigenen Ensembles (wie dem blank space ensemble mit dem Percussionisten Max Gaertner oder dem ensemble in transition, einem Ensemble für neue Musik, Gebärdenpoesie und Tanz) zusammen.
Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 06/2023.