„Sänger sind keine Rennpferde“

Nach zwei Spielzeiten im Opernstudio NRW ist der junge Countertenor Etienne Walch jetzt Mitglied im Ensemble der Oper Chemnitz. Warum er Barockliteratur schon immer liebte, wieso Wettbewerbe nichts für ihn sind und er Ensemblearbeit dem Gastieren vorzieht. Ein Porträt.

Bescheiden erzählt er von seinem jungen Sängerleben – und doch wird deutlich, dass Etienne Walch seine Entscheidungen bis heute aus voller Überzeugung fällt. Zum Beispiel, Countertenor zu werden: „Mir war klar, ich mache das oder ich gehe ins Wasser!“, lacht er heute über seine jugendlich-dramatische Einstellung aus der Zeit am musikalischen Spezialgymnasium Rutheneum in Gera. Überhaupt dorthin zu gehen aus einer thüringischen Kleinstadt, wo der Vater Betriebswirt, die Mutter Handelsfachwirtin und die Schwester Industriekauffrau waren. „Ich musste da raus, konnte in diesem engen Dorfkontext nicht existieren.“ Die Mutter hat ihn in dieser Vehemenz immer unterstützt, die Liebe zum Gesang vermittelt – und so sitzt Etienne Walch ein paar Jahre später in der Kantine der Oper Chemnitz, wo er seit Beginn dieser Spielzeit engagiert ist. Als Countertenor, was eher eine Ausnahme ist im deutschen Ensemblesystem.

Chemnitz – Kulturhauptstadt 2025 – hat ein Fünfspartentheater und steht im Musiktheater eher für Wagner- statt für Barocktradition. Doch Intendant Christoph Dittrich und sein neuer Operndirektor Jürgen Reitzler waren mutig mit dieser Entscheidung – und haben ohnehin ein sehr junges neues Ensemble ans Haus gebunden. Das hat sich bereits bewährt, zum Beispiel in Bohuslav Martin˚us Filmoper „Die drei Wünsche oder Die Launen des Lebens“ – ein üppig ausgestattetes Ensemblespektakel, in dem Etienne Walch als Fee Null eine Paraderolle ausfüllt. Stolz und androgyn steuert diese Fee das Geschehen, nachdem sie von einem gewissen Monsieur Juste gefangen wurde, ihm dann aber drei Wünsche erfüllen muss, um ihre Freiheit zurückzuerlangen. Im Goldmantel stolzierend, verletzt und herrisch zugleich macht Etienne Walch diese Figur zur moralischen Instanz des Abends – mit glockenhellem Altus, einer unglaublichen Aura und erfreulicher Textverständlichkeit.

Etienne Walch in "Die drei Wünsche oder die Launen des Lebens" in der Rolle der Fee Null

Etienne Walch als Fee Null in „Die drei Wünsche oder die Launen des Lebens”. Foto: Nasser Hashemi.

Ein Faible für Barockliteratur

Für Letztere ist sein Faible für Barockliteratur und deren Rezitative mit Sicherheit hilfreich. Und die hat Etienne Walch schon im musikalischen Gymnasium für sich entdeckt: „Wir waren eine Gruppe von Leuten, die alte Musik einfach geliebt hat.“ René Jacobs im „Stabat Mater“ von Pergolesi war eine Offenbarung und das Gefühl prägend, was man durch die richtige Technik mit seiner Stimme für Klang erzeugen kann. „Die Helden in Barockopern zeigen Virtuosität, ihre Arien sind oft allegorischer Natur – das hat in mein jugendliches Herz gepasst.“ Mit seinem gymnasialen Ensemble gab es auf Anhieb den 2. Preis bei Jugend musiziert, im Folgejahr für Etienne Walch Platz 1 im Bereich Solo. „Ab da dachte ich, es scheint ja okay zu sein, was ich mache…“

Vom schulischen Chorgesang mit Stimmbildung ging es zur Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig bei Professorin Christina Wartenberg, die ihm technische Grundlagen beibrachte. Weil der Leiter des szenischen Spiels nicht besonders barockaffin war, probierte sich Walch in der Leipziger und Dresdner Off-Szene aus. Bei einem Gastengagement am Oldenburgischen Staatstheater lernt er das Ensemblesystem kennen und lieben. „Diese Symbiose zwischen Theater und Stadt, das fand ich toll!“ Bis heute schätzt er es, wie hier fest an einem Haus zu sein: „Gastieren ist cool und macht Spaß, aber ich habe gern das Familiäre. Man muss sich nicht in jeder Produktion beweisen, sondern kann sich aufeinander einlassen, ganz anders miteinander spielen“, so Walch.

Das Opernstudio NRW als Kaderschmiede

Noch vor Studienabschluss bewirbt er sich „auf alles, was nicht niet- und nagelfest war“, und landet beim Intendantenvorsingen fürs Opernstudio NRW in Essen. „Ich war total erkältet, es war ein Tag vor meiner Premiere in Oldenburg, aber in der Essener Philharmonie singen zu dürfen war Wahnsinn. Alle haben sich rührend gekümmert, Organisation und Atmosphäre waren toll.“ Zunächst kommt eine Absage, ein paar Wochen später dann wieder ein Anruf: Es gäbe nun mehr Geld vom Ministerium und damit einen zusätzlichen Platz, ob er denn noch Interesse hätte. „Gleich am Telefon sind wir mögliche Partien für mich durchgegangen: Oberon im ,Midsummer Night’s Dream‘ natürlich, anderes könne man tauschen oder für Altus umschreiben…“

Der Wechsel war hart, innerhalb eines Monats von Leipzig nach Dortmund zu gehen, eine Wohnung zu finden, dazu das kurzfristige Partienstudium: „Ich hab geheult wie ein Schlosshund – aber es war die absolut richtige Entscheidung, eine prägende Zeit.“ Tatsächlich ist die Kooperation der vier Opernhäuser Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Wuppertal deutschlandweit einmalig und bietet jungen Sängerinnen und Sängern die Chance, parallel vier Repertoire- und Führungskulturen kennenzulernen. Die Vermittlungsrate ist hoch, Meisterkurse macht der junge Sänger bei Johannes Martin Kränzle, Bo Skovhus und Edith Wiens.

Der Sicherheitsmensch

Dann kommt Corona – und einige Opernstudio-Produktionen platzen. Dafür gibt Walch in Gelsenkirchen und Wuppertal den Tolomeo in Händels „Giulio Cesare“, in Dortmund „Ein barockes Pasticcio“ – als Doppelbesetzung des weltweit gefeierten männlichen Soprans Bruno de Sá. In Gelsenkirchen unter Intendant Michael Schulz lernt er – wie bereits in Oldenburg – den Stadttheaterbetrieb schätzen, wirkt Anfang 2022 bei einem szenischem Weihnachtsoratorium dort mit. Leerlauf bleibt kaum, es folgen Meisterkurse, die HändelFestspiele in Halle und das Debüt am AaltoTheater Essen als Bill Henson in Gordon Kampes Uraufführung „Dogville“. Eine schwierige Rolle in der Inszenierung von David Hermann, die 2023 den Deutschen Theaterpreis DER FAUST abräumt.

Szenenfoto aus "Dogville" am Aalto-Musiktheater Essen

Etienne Walch (l.) als Bill Henson in Gordon Kampes UA „Dogville” am Aalto-Musiktheater Essen. Foto: Nasser Hashemi.

Doch bei allem Gastiererfolg bleibt Etienne Walch vorsichtig und bewirbt sich noch vor Ende der Opernstudio-Zeit auf eine Projektleitung bei der Bundesakademie für junges Musiktheater in Rheinsberg: „Ich bin so ein Sicherheitsmensch. Es war Oktober 2021, Corona, keiner wusste, was kommen würde.“ Die homeofficetaugliche Managementaufgabe reizt ihn, er stellt eine partizipative Produktion mit Kindern und Jugendlichen auf die Beine – und sitzt im KBB von Schloss Rheinsberg, als der Anruf aus Chemnitz kommt: Zusage zum Festengagement.

„Ich habe wohl einen ganz guten Weg gewählt – und Wettbewerbe bewusst ausgespart. Ich kann das nicht. Sänger sind keine Rennpferde! Die Atmosphäre bei Wettbewerben finde ich schrecklich. Ich mag diese Selbstvermarktung nicht.“ Genau das zeichnet den jungen Sänger aus: authentisch zu sein, bescheiden und dennoch willensstark. „Am wichtigsten ist, ich bin glücklich mit dem, was ich mache, und kann in den Spiegel schauen.“ Und das merkt man nicht nur im Gespräch, sondern auch an seiner Ausstrahlung auf der Bühne. „Mich interessiert eine Produktion, ein Team, eine Rolle viel mehr als irgendein Look.“

Auch wenn ihm natürlich klar ist, dass es ganz ohne Selbstdarstellung nicht geht im hart umkämpften Klassikmarkt. Ein befreundeter Intendant sagte ihm kürzlich, es sei heute leichter, einen guten Countertenor zu finden als einen guten Bass. Die internationale Konkurrenz ist riesig. Und was ist mit Konzertbetrieb? „Mache ich nicht so gern wie Oper. Man fühlt sich seiner darstellerischen Möglichkeiten beraubt. So ein Notenblatt hemmt mich.“ Das passt, denn Etienne Walch gehört auf die Bühne.

Chemnitz und die Zukunft

An der Chemnitzer Oper schätzt er die zugewandte Atmosphäre: „Jeder grüßt hier jeden, und es ist eine große Expertise am Haus. Der Inspizient hat gerade seine 250. „Hänsel“-Vorstellung gefahren, das ist Handwerk!“ Jetzt steht die Stadt in den Startlöchern des Kulturhauptstadtjahres 2025. „Hier gibt es noch jede Menge Subkultur. Freiräume, die man in Leipzig noch bis Anfang der Nullerjahre hatte. Nur die infrastrukturelle Anbindung muss noch besser werden“, stöhnt er. Immerhin gibt es inzwischen zwei ICs am Tag nach Berlin.

Was nach den beiden bisher geplanten Spielzeiten hier wird, kann Etienne Walch nicht abschätzen. „Ich hatte zweimal einen Sechser im Lotto, als Counter in ein Ensemble zu kommen!“ Vielleicht kann das ja Vorbildwirkung haben. Ansonsten hat er Pläne für eine Solo-CD mit Kantaten. Und die Managementstelle an der Bundesakademie in Rheinsberg mag er auch nicht ganz aufgeben…

Etienne Walch, geboren 1993, ist im thüringischen Kaltennordheim aufgewachsen. Musikalische Grundausbildung am Rutheneum in Gera, Gesangsstudium an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. 2019 bis 2022 Mitglied im Opernstudio NRW. Seit der Spielzeit 2023/24 festes Ensemblemitglied der Oper Chemnitz.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 2/2024.