Eine Frau blickt in die Kamera. Sie trägt eine Sonnenbrille und ein schwarzes Oberteil

„Alle wollen Geschichten“

Die georgisch-deutsche Regisseurin und Dramatikerin Nino Haratischwili verarbeitet konkrete politische Ereignisse in ihren Stücken, hat aber zugleich ein Faible für antike Stoffe. Ein Gespräch über das politische Bewusstsein ihres Heimatlandes in Zeiten des Ukrainekrieges.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Nino Haratischwili, Sie stammen aus Georgien und haben sich in Ihren Romanen und Theaterstücken intensiv mit der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte auseinandergesetzt. In „Die Katze und der General“ geht es konkret um den Tschetschenienkrieg und die Recherchen der russischen Oppositionellen Anna Politkowskaja. Trotzdem hat Sie, wie Sie 2022 in einem Artikel in der ZEIT schrieben, der Überfall Russlands auf die Ukraine überrascht. Haben auch Sie die Entwicklungen unterschätzt?

Nino Haratischwili: Ich war in dem Sinne nicht überrascht, dass ich Putins Regime einen solchen Überfall nicht zugetraut hätte. Solche Angriffe gibt es ja nicht erst seit 2022, sondern seit seinem Amtsantritt. Tschetschenien, Syrien, die Krim, Georgien. Überrascht hat mich, dass dieser Überfall – Panzer, die auf Kiew zurollen – so offensiv geschieht, war Putins Taktik doch bislang das Verschleiern. Das Ummanteln kriegerischer Aktionen hinter Begriffen wie Antiterrorkampf zum Beispiel – so wurde der Tschetschenienkrieg genannt. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: In Ihrem Stück „Radio Universe“ haben Sie den Einmarsch russischer Truppen 2008 in Georgien verarbeitet. Es ging bei dem Konflikt um die abtrünnigen, von Russland unterstützten Gebiete Südossetien und Abchasien. Nach einer Militäroffensive Georgiens griff Russland sowohl aus der Luft als auch über Land und von See an. Sie waren zu der Zeit in Tbilissi. Wie haben Sie die Situation damals wahrgenommen?

Nino Haratischwili: Ich war während meiner Sommerferien dort und übernachtete bei meiner Cousine, deren Kinder mich nachts plötzlich weckten mit den Worten „Es ist Krieg! Es ist Krieg!“. Am Abend zuvor haben wir zusammen gegessen und gefeiert. Man wusste zwar, dass es in den Grenzgebieten zu Russland immer wieder Spannungen gab, aber daraus einen Krieg abzuleiten? Ich dachte zunächst, das passiert gerade nicht hier. Die Realität, die ich im Fernsehen sehe, ist nicht jene vor der Tür. Ein reiner Selbstschutzmechanismus. Und trotzdem ist man plötzlich mittendrin. Menschen rennen hin und her, machen Hamsterkäufe, irgendwann kamen die Flüchtlinge, die man einquartieren musste. Ich habe auch ein, zwei Artikel geschrieben, um zu versuchen, die Situation in Worte zu fassen. Dann gingen die Bombardements los. Spätestens als ich nachts die Bombe hörte, die am Flughafen von Tbilissi einschlug, dachte ich, okay, jetzt ist der Krieg hier. Ich war wie gelähmt, dann stellte sich plötzlich eine komische Funktionstüchtigkeit ein. Decken sammeln, Artikel schreiben – man gibt sich selbst Aufgaben, damit man nicht komplett wahnsinnig wird. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Die Gefahr eines längeren Krieges war damals sehr real. 

Nino Haratischwili: Ja, absolut, es war unklar, ob der Krieg in fünf Tagen endet oder das Land, wie Tschetscheniens Hauptstadt Grosny, in Schutt und Asche gelegt wird. Man hat mit allem gerechnet. Zum Glück endete der Einmarsch im Gegensatz zur Ukraine in wenigen Tagen. Georgien hätte nicht einmal ansatzweise die Ressourcen besessen, Widerstand zu leisten. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie ist die Situation in Georgien heute? Im Mai verkündete die georgische Regierung, zwischen Tbilissi und Moskau wieder Direktflüge zuzulassen. Die Tochter des russischen Außenministers Sergej Lawrow soll sich in Georgien aufgehalten haben. Der georgische Ministerpräsident Irakli Gharibaschwili, heißt es, sei eher russlandfreundlich, Präsidentin Salome Surabischwili will in die EU. Ist die georgische Gesellschaft ebenso gespalten?

Nino Haratischwili: Total. Seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wird der Abgrund jeden Tag größer. Was die Regierung betrifft: Es gibt diesen Oligarchen, Bidsina Iwanischwili, der in Russland zu Geld gekommen ist, zwar in Georgien kein offizielles Amt bekleidet, aber der inoffizielle Strippenzieher ist. Aus der von ihm gegründeten Bürgerbewegung ist die regierende Partei Georgischer Traum entstanden, die ihm komplett unterstellt ist. Würde die Partei offen aussprechen, dass sie für Russland sei, würde es zu einer Revolution kommen. Deswegen verschleiert sie ihre Russlandnähe hinter der Behauptung, dass man pro Europa wäre. Aber absurderweise handeln sie genau gegenteilig. Es ging damit los, dass sie sich gegen die Sanktionen gegen Russland aussprachen. Das führte sofort zu Protesten. Die Georgier sind ja extrem demonstrationsfreudig. Dann versuchte die Regierung, das russische Anti-Spionage-Gesetz einzuführen …

DIE DEUTSCHE BÜHNE: … welches in Russland zu einer Komplettüberwachung geführt hat …

Nino Haratischwili: … aber auch da stürmten die Georgier die Straßen, und das Gesetz wurde gecancelt. 90 Prozent der Menschen, die ich in Georgien kenne, wissen, dass es keine Alternative zum Westen gibt. Die Alternative ist der Norden, und da waren wir lange genug. Die Bevölkerung wird immer wütender und überforderter. Leider gibt es keine wirkliche Opposition. Es gibt zwar viele kleine Parteien, aber die sind alle untereinander zerstritten. Die demokratische Kultur, die besagt, dass ich nicht befreundet sein muss, um gemeinsam eine Entscheidung zu treffen, existiert nicht. Auch nach 30 Jahren Unabhängigkeit nicht. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Immerhin gibt es landesweite Demonstrationen und also ein politisches Bewusstsein.

Nino Haratischwili: Ja, die Zivilgesellschaft wächst immer mehr. Insbesondere die Jüngeren, die nach der Unabhängigkeit geboren wurden, sind sehr aktiv, gründen NGOs, zeigen mehr Eigeninitiative, was vielen Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, fehlt. Wir sind jetzt in einer Situation, in der man nicht, wie es unsere Regierungspartei praktiziert, „dazwischen“ sein kann. Was makaber ist: Es sind auch viele Flüchtlinge aus Russland in Georgien, also aus dem Land, das auch uns okkupiert. Hinzu kommen die Geflüchteten aus der Ukraine. Allein das ist eine solche Absurdität. Sehr überfordernd.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Theoretisch würde man natürlich sagen, es sind alles Menschen, die vor einem Krieg geflohen sind.

Nino Haratischwili: Natürlich finde ich es richtig, dass man Oppositionelle aufnimmt. Absolut. Es sind aber auch viele russische Touristen in Georgien. Sie kommen, um hier gut zu essen, guten Wein zu trinken und die Sonne zu genießen. Georgien war immer das Klischee der Côte d’Azur der Sowjetunion, das Dolce Vita. Als Russe fuhr man früher nach Sotschi, heute nach Batumi, lässt es sich gut gehen, und die Georgier singen, tanzen und kochen für dich. Das ist ein bisschen die Grundhaltung. Ich habe einen ganzen Sommer in Tbilissi inszeniert, das Theater liegt im Herzen der Altstadt, einem Touristenviertel. Immer wenn ich die Straße lang bin, habe ich nur Russisch gehört. Und da saßen tatsächlich auch Typen mit Putin-T-Shirts. Den Mumm muss man echt haben! Auf keinen Fall sind das alles Oppositionelle. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Die Pendelpolitik der georgischen Regierung erinnert auch ein wenig an Serbiens Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić, während es aus dem Kosovo heißt, dass mit Ministerpräsident Albin Kurti nun ein neuer Typus von Politiker angetreten ist, der weniger in das alte System verstrickt ist. Haben Sie Hoffnung für Georgien?

Nino Haratischwili: Die Hoffnung läge meiner Meinung nach nur in einer Koalition aus Oppositionsparteien. Alle Parteien, die bislang angetreten sind, das Land zu reformieren, wurden mit großem Pomp gewählt, nur um dann doch wieder in alte Bahnen zu geraten. Es gibt hier keinen Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela. Irgendwann verlieren alle den Bezug zur Realität, und das Machtstreben artet aus, sodass jeder, der gegenüber der Regierung kritisch ist, als Gegner betrachtet wird. Zugegeben nicht mit solchen Folgen wie in Russland. Zum Glück herrscht hier Meinungsfreiheit, die Menschen können auf der Straße demonstrieren. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben sich in Ihrem jüngsten Theatertext mit einem antiken Stoff beschäftigt: „Phädra, in Flammen“, erster Teil einer Trilogie, der im Mai bei den Ruhrfestspielen zur Uraufführung kam und nun am Berliner Ensemble gespielt wird. Auch hier treffen wir auf einen Mann, Theseus, der von der Macht nicht lassen kann. Sie haben schon mehrfach antike Stoffe bearbeitet. Was interessiert Sie daran?

Nino Haratischwili: Antike Stoffe sind für mich eine besondere Inspirationsquelle. Bereits meine Diplomarbeit war eine Überschreibung von „Medea“, „Elektra“ habe ich für das Junge Schauspielhaus in Hamburg bearbeitet. Als ich anfing, an „Phädra“ zu arbeiten, im Juli 2021, war ich gerade in Tbilissi. Wieder gab es Demonstrationen, diesmal für die Rechte der LGBTQ*-Community, bei denen es zu schweren Ausschreitungen kam. Rechte und Konservative, unterstützt von der orthodoxen Kirche, hatten gegen die Demos mobil gemacht. Sogar ein Journalist kam zu Tode. Mich haben diese Ereignisse sehr aufgewühlt, weshalb vieles davon in das Stück geflossen ist. Die Liebesgeschichte findet nicht mehr zwischen Hippolytos und Phädra statt, sondern zwischen zwei Frauen, Phädra und ihrer Schwiegertochter in spe Persea.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Reagieren Sie in Ihrem Schreiben häufiger auf tagesaktuelle Ereignisse?

Nino Haratischwili: Kommt darauf an. Ich halte nichts von einer Tagesaktualität, die unbedingt ins Theater soll. Eine gewisse Distanz brauche ich schon. Bei „Phädra“ waren die Ereignisse eher wie das Salz auf die Wunde, sie haben Themen berührt, die mich schon lange tangieren. Mit dem Krieg gegen die Ukraine war es ähnlich, er ist in den zweiten Teil der Trilogie geflossen. Gerade aber wenn man universelle Stoffe bearbeitet, interessiert mich daran viel mehr das ewig Währende oder Universelle, als auf Teufel komm raus Medea in irgendeinem Plattenbau zu verankern, wodurch man den Stoff, finde ich, klein macht. Ich gehe davon aus, dass die Leser oder Zuschauer selbst die Fähigkeit haben, Erzählungen zu abstrahieren oder mit der Gegenwart zu verlinken. 

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Der universelle Anspruch wird derzeit auch kritisch hinterfragt, weil es sich oftmals um einen westlichen Universalismus handelt. Gibt es in Ihren Augen noch universelle Geschichten, die unabhängig von geografischen Kontexten und Herkünften alle verbinden?

Nino Haratischwili: Absolut. Alle wollen Geschichten! Sie sind das Webmaterial, das uns alle verbindet. Egal, wie wir uns verändern und fortentwickeln. Die größte Bezeugung dessen ist ja gerade das, was in der Ukraine passiert: Wir befinden uns im 21. Jahrhundert und haben auf europäischem Boden Krieg. So traurig die Feststellung ist, aber wir sehen, dass wir wenig dazugelernt haben. Und das kann man auf sehr viele andere Themen übertragen. Gerade deshalb interessieren mich antike Stoffe. Die Weltanschauung ist zwar nicht mehr aktuell, die Götterinstanz mit ihrem Fatalismus des Vorgezeichneten, der unserer heutigen Illusion der absoluten Selbstbestimmung entgegensteht. Nichtsdestotrotz sind das Streben nach Macht, die Liebe, der Krieg, der Kampf zwischen den Geschlechtern oder die Suche nach individueller Freiheit Aspekte, die, egal in welcher Gesellschaft, in welchem Jahrhundert wir leben, sehr relevant sind. Natürlich müssen wir uns über Formen unterhalten. Aber der Mensch ist nun einmal der Mensch – mit allen guten und allen schlechten Eigenschaften. 

 

Über die Autorin und Regisseurin Nino Haratischwili 

„Alle wollen Geschichten“, sagt Nino Haratischwili. Und genau das ist es, womit die 1983 in Tbilissi (Tiflis) geborene Schriftstellerin, Dramatikerin und Regisseurin ihre Leserinnen und Leser seit vielen Jahren begeistert. Es sind Geschichten, die mit einem großen Gespür für die historische Determiniertheit menschlicher Schicksale Generationen, Jahrhunderte und Kontinente umspannen – sei es in Romanen wie „Das achte Leben (Für Brilka)“ (2014), „Die Katze und der General“ (2018) und „Das mangelnde Licht“ (2022) oder in Theaterstücken wie „Land der ersten Dinge“ (2014) oder „Schönheit“ (2016). Vielfach wurde Nino Haratischwili für ihr Schreiben ausgezeichnet, darunter mit dem Anna-Seghers-Preis (2014) und der Carl-Zuckmayer-Medaille (2023). Immer wieder sind es die Geschichten des postsowjetischen Raumes, dessen Brüche, Verwerfungen und Hoffnungen, die sich in ihren Figuren spiegeln. Sie selbst gründete bereits als Jugendliche in ihrer Heimatstadt Tbilissi eine deutsch-georgische Theatergruppe, das Fliedertheater, für das sie von 1998 bis 2003 regelmäßig Stücke schrieb und inszenierte. Im Anschluss studierte sie Filmregie an der Staatlichen Schule für Film und Theater in Tbilissi sowie von 2003 bis 2007 Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg. Ihr jüngstes Stück „Phädra, in Flammen“, eine Antikenbearbeitung, die sich in die Tradition von Stücken wie „Mein und dein Herz (Medeia)“ (2007) und „Elektras Krieg“ (2012) einreiht und Teil einer Trilogie ist, kam im Mai 2023 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Berliner Ensemble in der Regie von Nanouk Leopold zur deutschen Uraufführung. Als Regisseurin brachte Nino Haratischwili im April 2023 am Landestheater Marburg den Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“ von Aglaja Veteranyi zur Uraufführung – mit einem deutsch-georgischen Ensemble, welches die Suche der Romanheldin, Kind einer Artistenfamilie, nach einer eigenen Sprache und Identität ästhetisch berührend erfahrbar machte. „Der Zirkus ist immer im Ausland“, heißt es in dem Stück. Ein Zustand, der in seiner hellwachen Unbehaustheit auch dem Schreiben von Nino Haratischwili eigen ist. Am 23. September feierte die Theaterfassung ihres Romans „Das mangelnde Licht“ am Staatstheater Braunschweig Premiere. Darin geht es um drei Frauen, die sich 2019 in Brüssel treffen, um sich gemeinsam an die Zeit Ende der Achtzigerjahre in Georgien zu erinnern, als die Sowjetunion zusammenbrach und Platz für eine freie, aber auch gewaltvolle Zukunft machte. 

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 10/2023.