Neues im neuen theater Halle
Foto: Mareike Mikat (l.) und Mille Maria Dalsgaard (r.) © Tobias Kruse/Ostkreuz Text:Detlev Baur, am 15. Januar 2024
Traditionell hat das Schauspiel in Halle einen besonderen Draht in die Stadt. Diese Tradition wollen die beiden neuen Leiterinnen fortführen – mit ungewöhnlichen Ideen.
Ende September treffe ich die beiden Intendantinnen vor der Freilichtbühne im Innenhof, mitten in der Kulturinsel von Halle. Wir sitzen im Beachclub-Ambiente auf Sandboden, am Samstagnachmittag sind dort noch keine Menschen. „Wir haben das hier im Hof gemacht, um die Hallenser besser kennenzulernen. Was interessiert sie? Mit welchen Fragen kommen sie? Worauf haben sie Lust?“ Die Regisseurin Mareike Mikat hat am Abend noch ihre dritte Premiere innerhalb von zwei Wochen und ist entsprechend erschöpft. Die in Frankfurt an der Oder geborene Regisseurin ist als Stellvertreterin die eine Hälfte der neuen künstlerischen Leitung am neuen theater und dem Thalia Theater Halle.
Die andere Leiterin ist die Dänin Mille Maria Dalsgaard. Von 2007 bis 2010 hat sie als Schauspielerin bereits am Theater in Halle gearbeitet, in dieser Zeit war Mikat Hausregisseurin. „Halle hat sich in den 15 Jahren sehr gewandelt. Auch wir haben uns gewandelt. Es ist eine neue Begegnung und doch wie mit einer alten Bekannten“, berichtet Dalsgaard in hervorragendem Deutsch.
Die Vorgeschichte
Die dänische Intendantin hatte zuvor in einem Vorort von Kopenhagen eine freie Truppe gegründet, aus der ein Stadtteiltheater wurde, das inzwischen auch öffentlich gefördert wird. Die Eröffnungsproduktion inszenierte 2014 Mareike Mikat; Dalsgaard berichtet im Rückblick: „Diese Inszenierung von ‚Nora‘ in einem mobilen Puppenheim hat in Dänemark für Furore gesorgt.“ Mikat fährt fort: „Als dann Matthias Brenner seinen Abschied vom Theater hier bekannt gab, haben wir gleich gesagt, wir machen das gemeinsam.“ Nun hat Dalsgaard ihr Theater in Kopenhagen in andere Hände gegeben, Mareike Mikat konzentriert ihre Regietätigkeit auf Halle.
Matthias Brenner, Schauspieler, Regisseur und eine Institution in der Stadt, hat das neue theater seit 2010 erfolgreich geleitet. Immer wieder jedoch wurde seine Arbeit von internen Spannungen innerhalb der Bühnen überschattet. Besonders intensiv und überregional wahrgenommen war das zerrüttete Verhältnis des Opernintendanten Florian Lutz mit dem egozentrisch agierenden Geschäftsführer Stefan Rosinski. Die Schauspielsparte, das neue theater, ist eine Gründung des Schauspielers Peter Sodann, der noch in der DDR 1981 mit immenser Privatinitiative diese neue Bühne in der Kulturinsel eröffnete. Dalsgaard und Mikat sind nach einigen Umstrukturierungen nun Leiterinnen von zwei der fünf Theatersparten der Bühnen der Stadt: vom Schauspiel (neues theater) und dem Kinder- und Jugendtheater (Thalia Theater). Daneben gibt es Oper, Tanz und Puppentheater mit jeweils eigener künstlerischer Leitung.
Sozialer Impuls
Die Berufung der beiden ist angesichts dieser engen Verbindung von Jugendtheater und Schauspiel ein glücklicher Griff. Beide sind auch dem Jungen Theater schon lange verbunden, Mikat hat etwa am theater junge generation in Dresden gearbeitet, Dalsgaard leitete als Schauspielerin in Halle einen Jugendclub und hat in Kopenhagen starke theaterpädagogische Impulse gesetzt. Beide denken Erwachsenen- und Kinder- und Jugendtheater zusammen und legen großen Wert auf die Vermittlung von Theater; Chefdramaturg Christoph Macha ist vom Jungen Schauspiel Eisenach gekommen, inszeniert in dieser Saison auch Kindertheater am Thalia Theater. Insgesamt prägt eine große Zugewandtheit gegenüber dem Publikum das Programm des neuen Teams. Dabei verbindet sich die künstlerische Perspektive mit der Vermittlung, „weil wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass sich assoziative Bezüge direkt erschließen. Also das ist tatsächlich unsere Aufgabe, die Zugänglichkeit zur Kunst zu überprüfen und aus dem Elfenbeinturm rauszukommen“, formuliert Mareike Mikat.
Die Einsicht der Künstlerin verbindet sich bei ihr wie bei Dalsgaard mit der pädagogischen, sozialen Passion. Dabei sehen sie sich stark in der Tradition des Thalia Theaters, das besonders in der Intendanz von Annegret Hahn mit mobilen Formaten die Stadt direkt adressiert hatte. Und damit beeinflusste sie Dalsgaard für ihr sozial engagiertes und dabei künstlerisch ambitioniertes Theater in Kopenhagen.
„Sturm und Drang“ und zweimal „Drache“
Ernst genommene Niederschwelligkeit bedeutet im Spielplan der ersten Saison des Duos keineswegs Unambitioniertheit: Friedrich Maximilian Klingers „Sturm und Drang“ hat nur mit seinem Titel Literaturgeschichte geschrieben, bekannt ist das Drama selbst allenfalls bei Germanisten. Und doch schafft es die Inszenierung von Tim Tonndorf, glaubhaft auf den Furor des alten Werks zu verweisen und dabei ein starkes Stück Gegenwartstheater zu bieten. Denn vor der historischen Folie von verwirrten Europäern im amerikanischen Bürgerkrieg kann das spielfreudige Ensemble große Gefühle von Liebe (zwischen den Geschlechtern) und Hass (zwischen den kämpferischen Männern) zeigen, sie ironisch ausstellen und zugleich als nachvollziehbar menschlich nahebringen. „Sturm und Drang“ wird so nicht nur zur unterhaltsamen Ausgrabung, sondern zu einem szenischen Kommentar über unzeitgemäßes männliches Überagieren. Auf der kleinen Bühne hat die kluge, furios gespielte Inszenierung bei meinem Besuch leider noch kein großes Publikum erreicht.
Das große Gewicht von Zielgruppentheater im neuen theater zeigt sich auch bei Mareike Mikats doppelter Inszenierung von Jewgeni Schwarz’ „Drache“. Der ist nämlich in zwei Fassungen zu sehen: einer für Erwachsene und einer für Kinder ab acht Jahren. Die Versionen unterscheiden sich nicht grundlegend, Besetzung und Bühne sind gleich, die Textfassungen etwas unterschiedlich. Auch diese Inszenierung zeigt, dass die Zugewandtheit gegenüber den Menschen der Stadt nicht flache Unterhaltung auf den Spielplan bringt, sondern politisches Theater in der Polis. Die überregionalen Kritiken waren durchgehend positiv.
„Wir (H)alle“ und „Warten auf Tränengas“
Das „interaktive Theaterspiel“ „Wir (H)alle“ existiert sogar in drei Fassungen, für 12- bis 15-Jährige, für 15- bis 18-Jährige und ab 18 Jahren. Die Altersangaben sind zwingend, ich konnte also nur die dritte Version besuchen. Das Publikum wird von Anfang an als Team in farblich differenzierte Gruppen zusammengefasst und mit 99 Fragen konfrontiert. Jeder, der Fragen wie „Kennst oder kanntest du jemanden persönlich, der im Krieg war oder ist?“ oder „Wusstest du, dass Marianne Rosenberg aus Düsseldorf kommt?“ mit „Ja“ beantworten kann oder will, geht aus seinem Gruppenfeld in das große Ja-Karree hinter der Moderatorin, die nüchtern die Fragen in den Raum stellt. Bei dieser Stadt-Aufstellung bewegten sich in der Ü-18-Premiere alle Beteiligten konzentriert und voller Lust zwischen Gruppe und Antwortfeld. Nur durch kurze Musikeinspielungen oder Diskussionsrunden unterbrochen, die innerhalb der Gruppe einen Konsens erzielen sollen, entwickelte sich ein lustvolles Rate- oder vielmehr Antwortspiel.
Der Witz besteht im Verhältnis des eigenen Ich zur kleinen Untergruppe und zur großen Gesamtgruppe. Individualität fügt sich hier in einen Rahmen klarer Regeln. Das von Alia Luque schnörkellos auf der großen Bühne inszenierte Spiel soll die Teilnehmer:innen zu Hauptfiguren machen, die aufeinander achten. Das Spiel um Gruppe und Einzelne funktioniert hervorragend, auch wenn bei der Premiere überwiegend dem Theater verbundene Menschen mitspielten. Die Frage ist, ob dieses Mitmachtheater auch Bürger:innen jenseits der Theaterbelegschaft erreichen kann; im Haus selbst setzt man vor allem auf Mundpropaganda in der Stadt. Das Konzept jedenfalls scheint durchaus überregional übertragbar.
Mareike Mikat betont in ihrer kurzen Ansprache auf der Premierenfeier von „Wir (H)alle“, dass das Publikum der „Star“ am neuen theater sei. „Das Publikum ist unser Hauptdarsteller.“ In der deutschen Erstaufführung von „Warten auf Tränengas“, inszeniert von Mikat selbst, ist es definitiv ein Mitspieler. Die Handlung des Stücks von Andreas Sauter und Bernhard Studlar umfasst eine ziemlich rasante Geschichte: Der Präsident eines demokratischen Landes wird von einer gewaltlosen Revolution aus dem Amt gefegt, auch der Einsatz von Tränengas hilft der staatlichen Autorität nicht mehr. Eine Frau übernimmt mit wohlklingenden Parolen von Internationalität, neuer nationaler Gemeinsamkeit und sozialer Gerechtigkeit die Macht. Als der Ex-Präsident von der Wirtschaftslobby gegen die kapitalunfreundliche Politik instrumentalisiert wird, verhängt eine Volksabstimmung die Todesstrafe per Guillotine gegen ihn. Ein Triumph der populären Präsidentin, der jedoch für sie und ihre gewendeten Mitarbeiter (Polizist und Sekretär) zu großen inneren Spannungen führt. Das Publikum ist von der ersten Station in der Kassenhalle Teil des Protests, auf der nächsten Station vor dem Theater bestimmt aber noch das Gefühl der theaterüblichen Distanz zum Spiel die Haltung der rund 50 mitwandelnden Zuschauer:innen.
Das Stück ist eine eigenwillige Mischung aus Zustandsbeschreibung und utopisch-dystopischer Fantasie. Die Charaktere sind eher angedeutet als ausgestaltet, die besondere Qualität liegt gerade in der hybriden Verbindung von (teils chorischer) Beschreibung einer gesellschaftlichen Krise und den biografischen Auswirkungen der historischen Umwälzungen. Die Regie hält die Schauplätze und das Publikum bei dieser komplexen Reise klugerweise in Bewegung. In der vierten und längsten Station, in der Theaterbar Casino über den Dächern der Stadt, kommen Spieler:innen und die schließlich im „Stuhlkreis“ versammelten Mitläufer:innen des Publikums nicht nur räumlich weiter zusammen. Hier prallen die Schicksale der beiden zentralen Figuren, der neuen Präsidentin und des ehemaligen Präsidenten aufeinander, genauer: Es laufen beider auseinanderlaufende Biografien wirkungsvoll parallel. Während sie Härte predigt, betrinkt er sich im Bademantel an der Bar des Wirtschaftsmoguls und taumelt seinem Ende entgegen. Der weitere Blick auf gesellschaftliches Unwohlsein zu Beginn – „Kann man nicht auch mal sagen, dass wir in einem guten Land leben?“ – ist nun ganz bei den Protagonist:innen angekommen. Besonders Till Schmidt und Nicoline Schubert gelingen im Finale Figurenporträts, die dem eng versammelten Publikum die Geschichte nahebringen.
Publikumseinbindung und geglücktes Gegenwartstheater ergänzen sich in „Warten auf Tränengas“ hervorragend. Ob das neue neue theater in der Stadt Erfolg haben und wirklich neues Publikum ansprechen wird, muss sich zeigen. Fünf Jahre haben die beiden und ihr Team nun Zeit. Starke künstlerische Setzungen sind ihnen zum Start auf jeden Fall gelungen. Inzwischen hat auch Mille Maria Dalsgaard mit eigenen Inszenierungen künstlerisch eingegriffen, mit einer neuen Fassung der „Weihnachtsgeschichte“ nach Charles Dickens. Im Februar folgt ihre Inszenierung des dänischen Stücks „Lebzeitgäste“, das „Menschen im Dauer-Selbst-Krisen-Karussell zwischen globaler Gesellschaft und persönlichem Schicksal“ zeigen soll.
Die Neuen in der Stadt
Beim Covershooting treffe ich die beiden Theaterleiterinnen wieder. Wir fahren nach Halle-Neustadt, eine riesige Plattenbausiedlung, die bis 1990 als Schlafstadt für Arbeitende in der Chemieindustrie eine eigene Stadt war. Den beiden ist wichtig, das Theater auch hierhin zu bringen, zu Menschen, die vom kulturellen Reichtum Halles eher ausgeschlossen sind. Geplant ist, „Warten auf Tränengas“ an einen passenden Schauplatz hier zu transferieren. Das wäre thematisch schlüssig, es geht ja gerade um die Partizipation, ja, die Machtergreifung der stillen Mehrheit.
Als wir zwischen Sozialkaufhaus, unscheinbarer Moschee und Polizeicontainer die beiden künstlerischen Leiterinnen fotografieren wollen, erscheint rasch ein Polizist, der uns barsch anspricht und die Aufnahmen untersagen möchte, bis er einsieht, dass seine Argumentation rechtlich nicht haltbar ist. Für Mareike Mikat ist die Szene ein Beispiel für die Hürden, die kreativen Menschen in der Stadt immer wieder errichtet werden, aus einer Verunsicherung heraus. Später jedenfalls kommen von Passanten interessierte Nachfragen, wieso wir denn hier fotografieren. Vielleicht sind auch die drei Häuserkomplexe an der Magistrale beispielhaft für das Viertel und die Stadt. Eines der an sich fast baugleichen Gebäude ist aufwendig restauriert, eines eine halb entkernte Bauruine, ein anderes ein Plattenbau in mäßig erhaltenem Zustand. Eine ausgeglichene Mitte scheint es in Halle und Neustadt nicht zu geben.
Die beiden sind bei dem Termin jedenfalls konzentriert bei der Sache, in ihrer persönlichen Unterschiedlichkeit ist da viel Sympathie und Verständnis für die andere zu erkennen. Beide wollen sie das Theater von der Kulturinsel hinaus breiter in die Stadt bringen. „Als neugierige künstlerische Person sehe ich es als meine Pflicht, Neuland zu entdecken“, sagt Dalsgaard. Am neuen theater scheint sie dafür zusammen mit Mareike Mikat am rechten Ort zu sein.
Mille Maria Dalsgaard, ist künstlerische Leiterin des neuen theaters Halle und des Thalia Theaters Halle. Sie wurde 1980 in Kopenhagen geboren und war von 2007 bis 2010 im Ensemble am Thalia Theater Halle engagiert. Das Sydhavn Teater in Kopenhagen ist unter ihrer Leitung rasant gewachsen und wurde ein neues Stadtteiltheater in Kopenhagen. Ihr Stück „Luna Seconda“ wurde als innovatives Format an der Schnittstelle zwischen Digitalität und Bühne mit dem Dänischen Theaterpreis 2021 ausgezeichnet.
Mareike Mikat, ist stellvertretende künstlerische Leiterin des neuen theaters Halle und des Thalia Theaters Halle. Sie wurde 1978 in Frankfurt (Oder) geboren. Seit 1998 inszenierte sie an zahlreichen Theatern wie dem Staatstheater Stuttgart, dem Staatstheater Kassel, dem Volkstheater München, Schauspiel Leipzig, Thalia Theater Halle. Ihre Adaption von Martin Andersen Nexös „Ditte Menschenkind“ am Sydhavn Teater in Kopenhagen 2021 zeichnete die Zeitschrift Politiken als eine der zehn besten Arbeiten des Jahres aus.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 1/2024.