Musik: „Der Freischütz“
Foto: Cover „Der Freischütz“ HMM 902700.01 © Harmonia Mundi France Text:Andreas Falentin, am 1. Juni 2022
Schon die Ouvertüre dieses „Freischütz“ überrascht – und zwar nicht aufgrund einer grundsätzlichen Lesart, sondern allein durch Reduktion, gar Weglassung jener Überwältigungsgestik, an die wir uns alle gewöhnt haben, wenn wir romantische Musik hören. Da ist die Liebe stets außergewöhnlich leidenschaftlich oder innig, der Wald extrem grün oder geheimnisvoll, das Böse extrem finster und die Erlösung strahlt überlebensgroß. Bei René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester findet einfach – Musik statt, auch und gerade in dieser anerkannten Keimzelle der musikalischen Romantik. Die flüssigen Tempi und die nie zu extreme Dynamik wirken wunderbar ausdifferenziert und durch den brillanten, etwas trockenen Originalklang des Orchesters bekommen wir wie nebenbei eine musikalische Verortung mitgeliefert. Wir befinden uns genau am Übergang von Klassik zu Romantik und, in Deutschland, beim Übergang vom Singspiel zur durchkomponierten Oper. Dazu winken Mozart und sogar die Barockzeit, weit entfernt, aber noch nicht aus der Welt.
Nach der Ouvertüre wird das Staunen größer. Denn da singt der Eremit. Wie bitte? Es ist ja noch bekannt, dass eine Szene mit ihm im ursprünglichen Libretto am Beginn des Stückes stand. Aber mit Musik? Die hat doch Carl Maria von Weber nicht komponiert? Hat er nicht. Der Dirigent René Jacobs hat sie kompiliert, vor allem auf Basis von Ouvertüre und Finale. Und exponiert so die Geschichte. Dabei geht es ihm um zweierlei: Die Restitution der Ursprungsdramaturgie von Carl Maria von Weber und seinem Librettisten Friedrich Kind und Story-Telling für die Hörbühne. Auch Erbförster Kuno bekommt statt seines ellenlangen Sprechmonologes über die Entstehung des Probeschusses, den kein Sänger je geliebt hat – eine Arie. Mit Text aus dem Libretto und Musik aus einer Schubert-Oper. Dazu sind die Dialoge gekürzt, behutsam auf Verständlichkeit der Handlung ausgerichtet modernisiert und aufgebrochen durch die ständige Präsenz des stets von zwei Perkussionisten begleiteten Samiel, der Teufelsfigur, die Max Urlacher mit spürbarer Freude verkörpert. So entstehen keine Längen in diesem spannenden Hörspiel. Und an Stellen, wo die eingeübten Hörgewohnheiten doch dazu führen, dass beim „Freischütz“-Fan ein Verlustgefühl entstehen kann, wird man durch ungewöhnliche Effekte, fast Gags, entschädigt. Bestes Beispiel dafür ist ein wildgewordener Tenor im doch sehr ungewohnt schlanken Jägerchor, der im „lala“-Teil einfach haarscharf stimmlich nebenher galoppiert, assistiert vom Blech. Und im frisch, aber fast andächtig zurückgenommenen Finale stirbt Kaspar mit ironischem Überpathos, rhetorisch bejubelt von Samiel. Und dann geht es fast still weiter. Und ungewohnt zügig.
Die Konzeption setzt sich konsequent in die Besetzung und deren Gesang fort, der durchgängig sehr wortverständlich daherkommt. Am Max von Maximilian Schmitt beeindruckt neben dem bildschönen Timbre vor allem der Verzicht auf jede Opernsänger-Manierismen, die nur dann und wann ironisch vorgezeigt werden. Agathe und Ännchen sind bei Polina Pastircsák und Kataryna Kasper auch stimmlich mindestens Cousinen. Ihr Timbre ähnelt sich auffällig, Kaspers Sopran ist einen Tick wendiger, Pastircsáks etwas expansionsfähiger. Dazu formt sie mühelos Legatobögen. Von unterschiedlichen Stimmfächern kann hier keine Rede sein.
Interessant und dramaturgisch konsequent ist auch die Besetzung der tiefen Männerstimmen. Nur Dimitry Ivashchenko als Kaspar hat ein Timbre, das man sofort mit romantischer Musik in Verbindung bringt: ein voluminöser Bass, dunkel, mit expansiver Höhe. Aber klar, fast weich auf Linie geführt. Christian Immler hingegen, der Eremit, ist eher Bass-Bariton und hat sich sein Renommee mit Bach-Kantaten und neuer Musik erarbeitet. Klanglich geht es hier um Lauterkeit, die Autorität ist sozusagen eine geistliche, keine sinnliche und entsteht ganz aus der Musik heraus. Bei Martin Winckhler als Kuno steht Solidität im stimmlichen Mittelpunkt, ein nicht zu überdurchschnittlicher, echter Oberförster eben. Und Yannick Debus ist ein schön unaffektierter Kilian und später als Fürst Ottokar ein eleganter Gernegroß, der seinen hohen Bariton in der Höhe geschmackvoll aufzureißen versteht, so dass der Effekt witzig, aber nicht lächerlich ist. Dazu kommt die unglaublich musikalische Zürcher Singakademie, die so genau und schlank gestaltet, dass es momentweise langweilig zu werden droht. Bis zum nächsten Miniatur-Schabernack.
Dieser „Freischütz“ ist eine Empfehlung für Opern-Anfänger, denn man bekommt eine spannende Geschichte verständlich erzählt und hört dazu schöne, nie zu laute Musik. Und die Aufnahme ist ein Muss für Freunde dieses so oft aus verschiedensten Gründen der Lächerlichkeit preisgegebenen Stückes, denn hier trifft Musizierfreude auf Originalinstrumenten auf eine frische, sehr eigenwillige Stückinterpretation. Und es entsteht aus der historischen Perspektive ein sehr heutiger Kunstgenuss, etwas, was René Jacobs oft versucht hat und was ihm meines Erachtens hier – nach Mozarts „Titus“ und „Zauberflöte“ – zum dritten Mal tatsächlich gelungen ist.
Carl Maria von Weber: Der Freischütz, 2 CDs, Harmonia Mundi, HMM 902700.01
HIER kann man in die Ouvertüre, HIER in das „neue“ Duett des Eremiten mit Agathe hineinhören.
Die Aufnahme ist am 29. April 2022 erschienen, HIER ist sie digital (je nach Format für 9,99 € oder 11,99 €) oder physisch (für 23,99 €) zu erwerben.