Mein Blick auf die Proteste im Iran
Foto: Solidaritätsaktion mit Protesten im Iran am Brandenburger Tor © picture alliance/dpa Text:Anonym, am 16. Dezember 2022
Wir haben in Deutschland lebende, iranische Theatermacher gebeten, etwas zur aktuellen Situation im Iran zu schreiben. Dieser Text in Tagebuchform zeigt, in welchen Zwiespalt die Gewalt gegen protestierende Frauen, Kinder, Künstler, Intellektuelle und Regimekritiker jene Künstler:innen treibt, die den Iran zwar verlassen haben und nun in Freiheit arbeiten können, aber noch immer persönliche Kontakte in ihre Heimat pflegen. Deshalb muss dieser Beitrag anonym erscheinen. Würde sein:e Autor:in identifizierbar, könnte das die Familie und Freunde im Iran in Gefahr bringen.
16. September
Mitten in Endproben, ich komme spät abends vom Theater nach Hause. Ein Tag voller szenischer Korrekturen und Krisen. Wie immer kurz vor dem Einschlafen ein Blick auf die Nachrichten: Das kurdische Mädchen, das vor zwei Tagen in Teheran von der Sittenpolizei festgenommen wurde und ins Koma gefallen ist, ist jetzt gestorben. Man vermutet einen brutalen Umgang der „Sittenpolizei“ mit ihr. Diese Nachricht löst massive Proteste in Kurdistan, aber auch im ganzen Iran aus. Sehr viele junge Mädchen und Frauen sind auf die Straßen gegangen und haben Ihre Kopftücher in der Öffentlichkeit abgelegt. Das Fass ist seitdem am Überlaufen. Eine Wut, die sich über Generationen hinweg angestaut hat, kommt mehr denn je zum Vorschein. Und diese Wut kennt keine Geschlechter.
Ich kann in dieser Nacht kein Auge zu machen. Ich fühle mich Irgendwie in einem Vakuum. Alle Erinnerungen aus der Kindheit und Jugendzeit kommen in mir hoch. Die eigenen Erfahrungen mit dieser sogenannten „Moralpolizei“.
29. September
Meine Premiere ist vorbei. Geschafft! All diese Tage habe ich irgendwie funktioniert, pausenlos gearbeitet. Lichtzeichen des Inspizienten, Textstriche und Musikeinsätze haben mein Dasein bestimmt. Und in jeder freien Minute habe ich versucht, Nachrichten aus meiner Heimat zu verfolgen. Inzwischen sind andere Mädchen und Frauen auf den Straßen getötet worden. Männer kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. Bereits so viele Festnahmen! Familien wissen nicht, wo ihre Angehörigen sich befinden. Unter den Festgenommen tauchen Namen auf, die ich kenne. Ein bekannter Dirigent, zwei Juristen, einige Ärzte, viele Journalisten und Fotografen. Und ich funktioniere weiter. Und die Frage: „Was mache ich hier auf der Bühne?“, wird in mir immer lauter.
15. Oktober
Ich komme von einer Vorstellung, wieder Nachrichten: Ein Brand ist im Teheraner Evin Gefängnis ausgebrochen. Kaum Informationen dringen aus den dortigen Mauern. Alle sind erschrocken, die Wut steigt. Teheraner fahren in den Norden, um die Familien der Insassen zu unterstützen, Mütter und Väter schreien vor dem Gefängnis nach Ihren Kindern, Ehemänner und Ehefrauen stehen voller Entsetzen davor. Aus dem Gefängnis hört man stundenlang Schüsse und Schreie.
Im Volksmund trägt das Gefängnis den Namen: „Evin Universität“. Studenten, Aktivisten, Journalisten, Philosophen, Künstler, Anwälte, Menschenrechtsaktivisten saßen und sitzen in diesen unmenschlichen Gemäuern. Man hat Angst um sie alle, die für dieses Land so wertvoll sind. Was spielt sich wirklich da drin ab?!
Ich bleibe auch diese Nacht über wach, versuche, über verschiedene Kanäle an weitere Informationen zu gelangen, werde selbst immer diffuser und diffuser.
Wie soll ich morgen meine Vorstellung spielen?!
30. Oktober
Namen über Namen, Opfer über Opfer. Verlässliche Nachrichten sind spärlich, ich verliere den Überblick.
Ich verstehe nicht, wie man so mutig sein kann, so kompromisslos. Dabei dachte ich immer, ich sei mutig. Ich bin trotz all der Widrigkeiten und Verbote dieses Landes meinen eigenen Weg gegangen und stehe jetzt im Ausland auf der Bühne. Aber ich bin nicht annähernd so mutig wie diesen junge Frauen oder gar die Schülerinnen dort, die für ihre Freiheit kämpfen und sich auch für mein Leben als Iraner:in aufopfern.
In der Vergangenheit musste ich hier häufig mit autoritären Opernpersönlichkeiten Diskussionen führen, was richtig sei, wie man Musik macht, wie Oper sein muss, und wie man als Opernsänger:in zu sein hat. Die Diskussionen schienen mir immer ziemlich absurd zu sein. Und heute noch absurder als je zuvor, wo sich in meinem Heimatland Menschen einem der repressivsten Systeme der Welt ohne Angst entgegenstellen. „Man kann mir doch nicht vorschreiben, was ich von einer Oper und Opernfigur halten soll, wenn ich das doch anders lese und sehe?!“ Und wieder schreit es in mir auf: „Was mache ich hier auf der Bühne?!“
15. November
Und wieder mehr Festnahmen und weitere Tötungen. Die Reihe der Gesichter wächst ins Unermessliche. Die Stimmung in den Universitäten und Schulen ist sehr angespannt, jeden Tag gibt es Aufstände. Ohne zu zögern, attackieren die Basidsch-Milizen und Revolutionsgarden die Schülerinnen, jüngere, wie ältere, mit Tränengas, Schlagstöcken und Schusswaffen. Inzwischen ist sogar eine Schülerin bei solch einem Überfall ermordet worden.
Und Kian, der Junge aus der Grundschule, der heute auf der Straße erschossen wurde – was macht eigentlich die Unicef?! Ich bekomme mit, dass sehr viele Iraner:innen in der Diaspora Briefe an die Unicef schreiben und diese Institution auffordern, aktiv zu werden, sich zu verhalten.
Die Kunststudenten sind auch betroffen, die Musikstudenten zum Beispiel haben anlässlich der Proteste Kompositionen geschrieben und in den Unis aufgeführt. Studenten aus der Fakultät Bildende Künste übermalen mit roter Farbe Schilder von Einrichtungen, Straßen und anderes als symbolischen Akt. Theaterstudenten versuchen, das Schweigen durch performative Aktionen im Inland, aber auch per Social Media zu brechen. Viele von ihnen sind mittlerweile festgenommen oder aus den Unis entlassen worden.
Will man die Kunstuniversitäten wieder schließen?!
Braucht man keine Kunst mehr?!
In Deutschland spielen wir die größten Klassiker der Weltliteratur und Operngeschichte, möglichst werktreu. Und wen kümmert das?! In einer Welt, die untergeht, durch diverse Krisen?! Sind Theater- und Opernhäuser relevant, wenn sie sich vom Weltgeschehen abwenden?!
Ich möchte gerne meine Theaterwelt wachrütteln. Besonders die Feminist:innen. Es ist nicht einfach.
8. Dezember
Es geht unaufhörlich weiter, mittlerweile sind mehr als 480 Menschen ermordet, darunter mehr als 60 Kinder, und mehr als 18.000 inhaftiert. Der erste inhaftierte Demonstrant ist heute in den frühen Morgenstunden, als wir alle noch tief und fest geschlafen haben, hingerichtet worden. Ohne dass seine Familie davon wusste. Eine Liste der Justizbehörde kursiert, eine rote Liste, viele Namen sind drauf. Man hat stündlich Angst um diesen Menschen.
Nachdem ein Theaterschauspieler auch auf der Liste zu sehen ist, rufen mich viele Kolleginnen und Kollegen an: „Das kann doch nicht sein?! Ein Theaterschauspieler auch?!“ Und ich sage: „Ja, bereits seit September sind sehr viele Theatermenschen, Musiker und Künstler in Haft.“ – „Wir müssen etwas tun!“, höre ich immer wieder. Und ich erwidere: „Ja, bitte, nur zu! All diese Menschen sind sehr gefährdet, auch Künstler, aber nicht nur Künstler.“
Eine Frage bleibt: Wozu machen wir Kunst, wenn am Ende des Tages im Iran niemand mehr da ist, der sie anschauen wird?
Die Frage nach „Was mache ich hier auf der Bühne?!“ findet vielleicht eine Antwort. Alles was ich als Künstler:in und Mensch nicht im Iran durfte, habe ich mir trotzdem zu eigen gemacht. Ich bin nach Deutschland gegangen – um mich hier jetzt mit selbstreferenziellen Künstlerproblemen und Kunstwidrigkeiten herumzuschlagen? Bin ich hier noch richtig? Habe ich meine Kollegen im Iran im Stich gelassen? Diese Fragen quälen mich.