Impression aus Lemberg/Lwiw

(K)ein Tagebuch aus Lemberg

Am 27. Februar berichtete die ukrainische Theatermacherin Viktoria Shvydko für uns über die neue Realität ihres Theaters Lesi im Lemberg/Lwiw als Bunker. Heute folgt die – durch technische Probleme verzögerte – Fortsetzung, in der sie persönlich über die ersten dreizehn Kriegstage berichtet. Bislang fanden  die Kriegshandlungen entfernt von Lwiw statt. Heute, wo nun erstmals starke Angriffe auf die Stadt gemeldet werden, erreicht uns ihr Text.

 

Das ist kein Tagebuch. Teil 2

08.03.2022 bis 13.03.2022

Heute ist der 13. Kriegstag in der Ukraine. Ich schreibe seit vielen Jahren nichts mehr außer Stipendienanträge oder Briefe an Partner oder kurze Projektbeschreibungen. Weil ich Theaterprojektmanagerin bin (früher dachte ich, ich wäre Theaterkritikerin). Und auch, weil ich mich eigentlich schäme, meine Reflexionen in der Öffentlichkeit zu schreiben (warum?). Ich schreibe nicht, obwohl ich einen Haufen alter Notizbücher habe, in denen ich viel geschrieben habe. Es war eine Art Graphomanie, aber mit therapeutischer Wirkung.
Heute ist der 8. März und ich hatte vor, auf den „Marsch der Gleichheit“ zu gehen, der seit einigen Jahren in Lwiw stattfindet. Aber er konnte nicht stattfinden, weil das Kriegsrecht verhängt wurde. Also habe ich meiner Oma auf dem Weg ins Theater einfach einen Strauß Schneeglöckchen gekauft – weil ich es kann, weil ich das Recht dazu habe, weil ich es einfach wollte. Und heute ist der 13. Tag des Krieges mit dem „Schwarm“. Ohne gefälschte Referenden, aber immer noch unter gefälschten Erklärungen der „Befreiungsoperation“ des russischen Präsidenten.
Vor 15 Tagen war ich auf einem Festival in Tschechien und am späten Abend las ich sehr
bedrohliche Nachrichten aus der Ukraine über die offizielle Erklärung vor Putins
Invasion.
Und vor 13 Tagen hat mich meine Schwester eine Stunde vor meinem Wecker mit den
Worten geweckt: „Wika, steh auf – wir haben Krieg.“ Denn vier Stunden, bevor mein Wecker klingelte, begann Russland, mein Land offen zu zerstören, indem es Charkiw beschoss.

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Kennen Sie die fünf Stufen der Trauerakzeptanz? Also, bei mir (und nicht nur bei mir) sind sie nie eingetreten – zumindest in diesen 13 Tagen. Oder vielleicht stecken wir alle in einer
Phase der „Wut“, die sich in etwas so Mächtiges und fantastisch Effektives verwandelt hat, dass wir etwas so Schreckliches wie Krieg akzeptieren. Sowas wie neue Timelines wie in der Marvel-Serie „Loki“. Vor zwei Jahren hat uns das Corona Virus isoliert und den halben Planeten lahmgelegt. Vor etwa einem Jahr startete Elon Musk mit einer Rakete von der Erde. Und vor zwei Wochen marschierte Russland in die Ukraine ein und beschoss Städte und Zivilisten. Wie kann dies in einem so kurzen Zeitraum verarbeitet werden? Wie?

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Ich fühle mich verwirrt und ein wenig schuldig. Denn was wusste ich vom Krieg? Acht Jahre dauerte er in einer passiv-aggressiven Form in einem Teil meines Landes, der
von einem anderen Land usurpiert wurde. Dass Mariupol damals zurückerobert wurde und Donezk und Luhansk nicht – vielleicht wird Mariupol deshalb jetzt festgehalten, was
die Geschichte mit Stalingrad wiederholt? Dass auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw vor fast genau hundert Jahren Kindersoldaten bestattet wurden? Was ist ein Buch wie Sun Tzus „The Art of War“, frage ich mich? Dass meine Urgroßmutter zwei Weltkriege überstehen musste und ich sie nie gefragt habe, wie sie das geschafft hat.

Der Krieg, der vor acht Jahren begann, blieb in sicherer Entfernung von mir. Er erreichte mich durch soziale Netzwerke, durch Freunde, die von ihm davonliefen, durch moderne ukrainische Theaterstücke, durch Artikel und Berichte, durch Links für Spenden an die Armee, durch Programme für Veteranen von Anti-Terror-Operationen. Es ist 13 Tage her, seit sich alles geändert hat und er neben mir steht.
Dabei lebe ich in Lwiw, genau wie vor acht Jahren. Seit drei Tagen gibt es keine Alarmsirenen mehr. Aber die Sache ist, ich erinnere mich nicht, welcher Tag heute ist. Ich weiß nur, dass heute der 13. Tag ist, an dem wir in einer anderen Realität leben, in der das Zeitgefühl völlig anders ist als zuvor.

Viktoria Shvydko, Foto: Khrystyna Khomenko

Viktoria Shvydko

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09.03.2022
Phantomsirenen sind, wenn man sie hört, aber sie gar nicht ertönen. In Lwiw gab es mehrere Tage lang keine Sirenen, aber bevor ich zu Bett ging, hörte ich einen beständigen fernen Alarmton. Es ist gut, dass meine Erfahrungen mit Sirenen nicht die gleichen sind wie die von Menschen aus Hostomel, Tschernihiw, Irpin oder Mariupol. So kann mein Gehirn begreifen, dass das Phantomsirenen sind und damit umgehen. So kann ich einschlafen und ruhig schlafen. Aus irgendeinem Grund träume ich nicht einmal von Schrecken.

Ich hatte Glück. Ich musste nicht wie meine Freundin nach Polen fliehen, zwei kleine Kinder vor den Kriegserlebnissen retten und meinen geliebten Mann hier zurücklassen. Ich muss nicht stunden- oder gar tagelang im Keller sitzen, wie es Tausende von Menschen in der Ukraine in den letzten Tagen getan haben, auch mein Kollege vom Theater, der zwei
Wochen im Keller von Hostomel verbracht hat.

Ich habe Angst und weine nicht wegen der Schüsse und Explosionen auf den Straßen in
der Nähe, sondern wegen der Nachrichten und Videos über die Verwundeten und die
zerstörten Straßen der Städte, in denen ich teils war und teils nicht war – aber sie alle fühlen sich vertraut an.

Ich hatte Glück. Und ich schäme mich dafür, in meinem Pyjama zu schlafen, anstatt dauernd vollständig angezogen zu sein, um bereit zu sein. Und ich weiß nicht, was ich mit diesem Gefühl anfangen soll.

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Ich lese „Harry Potter“. Ich bin 32, aber ich lese “Harry Potter“, weil es meine mentale Insel der Sicherheit ist. Das ist eine Geschichte, die mir Hoffnung gibt. Als wir vor ein paar Monaten beim Mittagessen im Theater darüber diskutieren, was „Hoffnung“ sei, wusste ich nicht, wie ich es klar erklären sollte – weder mir selbst noch meinen wunderbaren Kollegen; es ist so gut, sich mit ihnen in der Mittagspause über alles in der Welt zu unterhalten.

Jetzt weiß ich, was es ist, aber ich kann es immer noch nicht erklären.

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10.03.2022
Gestern fragten mich meine neuen Freunde – die aus anderen Ländern kamen, um sich freiwillig zu melden und denen zu helfen, die weniger Glück hatten als ich – ob ich Angst
hätte, dass in Lwiw dasselbe passieren könnte wie in Kiew oder Tschernihiw. Und was mein Plan sei für diesen Fall.

Ich habe lange erklärt, dass ich keine Angst habe, weil ich glaube, weil ich Gründe habe, weil wir mehr Zeit hatten, uns vorzubereiten, weil es noch etwas Anderes gibt …
Plötzlich stellte sich heraus, dass ich mir dieses Szenario nie vorgestellt hatte. Weil ich es mir nicht erlauben kann, es mir vorzustellen.

Am ersten Kriegstag gegen 7 Uhr morgens sammelte ich unter Tränen einen Außenrucksack ein: so, wie es in den Listen im Internet stand. Ich habe sogar für ein paar Tage einen Koffer mit Ersatzklamotten gepackt. Natürlich sammelte ich alle Dokumente, Geld und Schmuck. Aber es schien der einzige Tag zu sein, an dem ich noch befürchtete, ich müsste hier raus.

Ich habe eine blinde und naive Hoffnung. Dass sie uns nicht erreichen werden. Dass sie es nicht wagen. Dass die Streitkräfte der Ukraine das nicht zulassen werden.
Ich will mir den Moment nicht ausmalen, in dem man einen Notfallrucksack schultert und einen Koffer mit Ersatzkleidung nimmt, um alle Dokumente und Bargeld in den Innentaschen der Jacke zu packen, um zu entkommen. Ich kann es nicht zulassen.

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Ich habe Angst wegen Tschernobyl. Ich erinnere mich, wie unerträglich schmerzhaft und beängstigend es war, Swetlana Alexejeweits Buch darüber zu lesen. Oder sehen Sie sich die TV-Serie über Tschernobyl an. Ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert wie 1986. Kann die Welt zulassen, dass es wieder passiert?

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12.03.2022
„Heute sind wir alle Ukrainer!“ Können Sie sich vorstellen, wie kraftvoll und inspirierend das klingt? Wie wichtig war es für uns, dies in jenen ersten Tagen des völligen Chaos und der Angst zu hören? Neben der Ukraine standen viele Menschen mit einer Stimme. Neben meinem ganzen Land.

In den ersten Tagen haben mir so viele Leute geschrieben – aus der ganzen Welt. So viel Liebe, so viele Worte der Unterstützung, so viel Einsatz in verschiedenen Bereichen – von Demonstrationen bis hin zu Spenden.

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Wenn ich nicht im Theater oder in der Logistik beschäftigt bin – wie ich Matratzen bringe / mit Ausländern kommuniziere / Briefe schreibe / einen Spendenlink sende – versuche ich darüber nachzudenken, wie alles sein wird nach dem Sieg. Wie werden die Städte wiederaufgebaut und Schmiergelder und Korruptionssysteme
überwacht? Wie sich die Kulturlandschaft verändern wird und wie wir nach diesem Krieg auf neue Weise zwischen moderner Kultur und Tradition manövrieren werden. Wie ukrainische Schulen wirklich ukrainisch sein werden, nicht nominell (wenn fast alle Lehrer russischsprachig sind, wie in vielen Schulen in der Ostukraine). Wie wird die Zahl der Menschen wachsen, die Ukrainisch lernen und sprechen werden – in meinem Land und auf der ganzen Welt.

Liegt es daran, dass ich Projektmanagerin bin? Mein Gehirn ist darauf trainiert, so zu arbeiten – zu entwerfen. Es bewahrt mich sehr vor tiefer Traurigkeit.

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Sie wussten nichts über uns und wissen es nicht. Standardmäßig betrachten sie uns als minderwertig. Aber wir waren es nie und werden es nie sein. Weil wir ein Volk von hartnäckigen und ausdauernden Menschen sind. Jeder von uns hat seine eigene Meinung und es ist nicht leicht, damit zusammen zu leben. Aber wenn wir uns vereinen, ist es gefährlich, uns zu verärgern und zu beleidigen.

Denn heute haben wir keine Angst mehr – jetzt sind wir wütend. Wir haben Angst, unsere Lieben zu verlieren, aber wir zögern nicht, sie zu verteidigen. Wir werden hier stehen und nichts verschenken, was uns gehört.

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Ich habe eine neue Routine. Wir alle haben neue, denn innerhalb eines Tages wurden wir alle zu Freiwilligen. Heute habe ich im Rahmen dieser Freiwilligenarbeit Kuchen gebacken – mit Äpfeln und Pfirsichen. Es wurden drei Kuchen und ich habe sie für alle, die sich dort jetzt auch ehrenamtlich engagieren, ins Theater gebracht. Denn das ist mein Zuhause. Und ich will und werde alles dafür tun, dass mein Zuhause mein Zuhause bleibt.

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13.03.22
Heute Nacht haben meine Schwester und ich wegen der Sirenen mehrere Stunden im Badezimmer auf dem Boden geschlafen. Es stellte sich heraus, dass sie Raketen auf die Deponie in Jaworiw abfeuerten. Diese Stadt ist 64 km von Lwiw entfernt. Das Gebiet der Europäischen Union beginnt 27 km von Jaworiw entfernt. Sie haben es trotzdem gewagt, hier einzudringen.

Viktoria Shvydko, Lwiw

Übersetzung: Anastasia Horyn