Feminismus pur
Foto: Glossy Pain beim Covershooting auf dem Tempelhofer Feld: Angelika Schmidt (weiße Hose), Katharina Stoll (grüne Jacke), Riad Knight (rote Hose) © Annette Hauschild/Ostkreuz Text:Anne Fritsch, am 7. November 2023
Glossy Pain hat sich mit Klassiker-Überschreibungen einen Namen gemacht. In wechselnden Besetzungen trifft das Kollektiv mit seiner feministischen Perspektive den Nerv der Zeit.
Das Tempelhofer Feld. Ein weiter, offener Ort. Gleichzeitig fast schon ein Klischeebild von Berlin. Kurz: ein passender Ort für das Fotoshooting mit dem Kollektiv Glossy Pain, das sich die Offenheit zum Prinzip gemacht hat und humorvoll mit Klischees aller Art spielt. Mit auf dem Feld sind die Regisseurin Katharina Stoll, die Dramaturgin Angelika Schmidt sowie die Singer- Songwriterin und Schauspielerin Riah Knight. Drei wichtige Gesichter dieses Kollektivs, das in wechselnden Konstellationen arbeitet. Schmidt und Stoll kennen sich von der Schaubühne, wo sie als Referentin in der Dramaturgie beziehungsweise als Regieassistentin arbeiteten. Während der Arbeit im festen Engagement wuchs in beiden die Sehnsucht, alternative Arbeitsstrukturen zu finden und das freie Arbeiten auszuprobieren. Dass sie ein Kollektiv gründen würden, war nicht von Anfang an der Plan. Eher die Folge: Weil der Sprung ins Neue sich zusammen einfach besser anfühlt, so riefen sie 2020 mit anderen Mitstreiter:innen Glossy Pain ins Leben.
Auf die Frage, wer eigentlich alles dazugehört, lachen beide. „Es ist ein bisschen kompliziert“, gibt Stoll zu. Die Gruppe ist gewachsen. Und verändert sich weiter. „Was uns verbindet, ist die Art, wie wir arbeiten wollen“, erklärt Schmidt. „Da müssen wir gar nicht immer alle an jeder Produktion beteiligt sein.“ Eingebunden in die Strukturen eines großen Hauses hat ihnen ein bisschen die Leidenschaft gefehlt, da war so viel Angst und Druck. „Ich wollte die Lust und den Spaß am Theater wieder entdecken und als Motor nehmen“, so Stoll. „Nicht nur gegen etwas sein, sondern für etwas, für ein schönes und freundschaftliches Miteinander.“ Sich aufeinander verlassen können, auf die Ideen und den Input der anderen. Menschen um sich wissen, auf deren Meinung man vertraut: „Wir leben eine sehr offene, radikal zärtliche Beziehung zueinander.“
Produktionen an Stadttheatern und in der freien Szene
Der Schritt aus dem Engagement war ein bewusster. Allen Unsicherheiten zum Trotz. Sie alle haben mehrere Standbeine, jede auch ihre eigenen Projekte. Sie verwirklichen Produktionen an Stadttheatern und in der freien Szene. Angefangen haben sie 2021 mit der Stückentwicklung „BANG!“ über weibliche Lust, dann folgte 2022 Anne Leppers „Seymour“ (beide am Theaterdiscounter Berlin). Die Coronazeit hat ihnen einen sanften Start ermöglicht, ein allmähliches Einarbeiten in die bürokratischen Prozesse des selbstständigen Arbeitens, ins Formulieren von Anträgen und Beantragen von Fördergeldern. Auch wenn sie nie wissen, wie das nächste Jahr wird: Ihre Freiheit ist es ihnen wert.
Dass sich all die Mühe lohnt, zeigte sich 2022 mit „Sistas!“, einer Bearbeitung von Anton Tschechows „Drei Schwestern“ von der Autorin Golda Barton. Isabelle Redfern und Katharina Stoll inszenierten das Stück an der Berliner Volksbühne. Entstanden ist ein augenzwinkerndes Spiel mit Wirklichkeiten und Möglichkeiten, das sich selbst und alles andere auf die Schippe nimmt. Diese drei Schwestern haben eine schwäbische Mutter und einen amerikanischen GI als Vater. Sie wachsen als Schwarze im Nachwende-Berlin auf, anhand ihrer Geschichte entfaltet sich das Panorama einer Gesellschaft voller Vorurteile. Gegen Schwarze Deutsche, Ostdeutsche und Noch-nicht-Deutsche. Eine Hackordnung der Privilegien und Ausgrenzungen. Mit viel Humor und einer großen Lust wirft sich das BPoC-Ensemble in gesellschaftliche Debatten, springt hemmungslos und selbstironisch vom Privaten ins Politische und zurück.
Bestehende Strukturen smashen
Die Produktion wurde ein voller Erfolg. Sie ist nominiert für den Friedrich-Luft-Preis 2023, wurde eingeladen zum Festival Radikal jung in München (wo sie den Publikumspreis gewann) und den Mülheimer Theatertagen. Diese Tschechow-Überschreibung traf nicht nur einen Nerv, sondern ganz viele. Mit einer erfrischenden Nonchalance zeigt sie, dass es sehr wohl anders geht. „Es macht einfach Spaß, bestehende Strukturen zu smashen“, so Stoll. „In unseren Stücken versuchen wir, uns mit Humor an relevante gesellschaftliche Themen heranzuwagen, sodass man als Zuschauer:in mit einem positiven Gefühl rausgeht und Lust bekommt, sich mit Sexismus, Rassismus und Patriarchat auseinanderzusetzen. Es wäre toll, wenn wir es schaffen würden, miteinander im Gespräch zu bleiben.“
Eine junge weibliche Perspektive auf alte weiße männliche Klassiker also? Lässt sich der Impuls von Glossy Pain so zusammenfassen? Jein. Teilweise war die Ballung an Klassiker-Überschreibungen Zufall. Büchners „Woyzeck“, den Stoll 2023 am Theater an der Ruhr inszenierte, war zum Beispiel ein konkreter Auftrag. Aber die Idee, nicht nur ein Stück, sondern gewis- sermaßen auch die Geschichte neu zu schreiben, gefällt ihnen schon. Den „Woyzeck“ versetzten sie in eine Freundinnen-WG: Amanda Babaei Vieira spielt die Marie, Riah Knight die Margret, die hier zur besten Freundin geworden ist. Diese beiden bilden das Zentrum. Woyzeck, der Mann, kommt hinzu und zerstört letztendlich alle Harmonie.
„Das sind tolle Werke, aber da herrscht eben eine weiße männliche Perspektive vor“, so Stoll. „Die zu erweitern und den Zugang zu vergrößern, das finde ich spannend. Wie spielt man mit dieser Theatertradition? Und wie können wir uns die aneignen?“ Der „Woyzeck“ zum Beispiel: Das Stück lesen viele in der Schule. Ohne zu hinterfragen, dass der Titelheld am Ende seine Freundin umbringt: „Er gilt als das arme Opfer der Strukturen. Ist er auch. Aber er ist genauso ein Täter und Mörder. Und Femizide sind ein strukturelles Problem und kein individueller Einzelfall“, stellt Stoll klar. „Was erzählt das, wenn wir so ein Stück machen und den armen Täter in Schutz nehmen? Die Frauenbilder in der älteren Dramatik sind unterirdisch. Wenn wir versuchen, diesen Frauen eine Stimme zu geben, kämpfen wir auch für das Überleben dieser Werke.“ Wahrscheinlich hätte Büchner selbst das Stück heute anders geschrieben, vermutet die Regisseurin: „Vermutlich tun wir ihm einen Gefallen damit, ihn ein bisschen umzuinterpretieren.“ Im Oktober hat Katharina Stolls Inszenierung „Spring Awakening“ nach Frank Wedekind am Badischen Staatstheater in Karlsruhe Premiere, auch das eine Neuinterpretation.
Radikal feministisch
Ausschließlich Überschreibungen alter Stücke zu machen aber ist und war nie das Ziel des Kollektivs: Für die Zukunft ist sowohl eine Adaption der Graphic Novel „Erdog ̆an“ von Can Dündar und Mohamed Anwar geplant als auch eine Stückentwicklung über Disney-Prinzessinnen mit dem Arbeitstitel „Waking Beauty“: eine deutsch-kanadische Koproduktion mit der Quebecer Schauspielerin und Choreografin Claude Breton-Potvin, die bereits bei „BANG!“ und „Seymour“ mitwirkte und ebenfalls zum Kollektiv gehört.
Bei aller inhaltlichen Vielfalt ist ihr Name ihnen immer Prinzip, die Widersprüchlichkeit zwischen finsteren Themen und Humor. „Glossy Pain“ eben, „glänzender Schmerz“. Und natürlich: der feministische Blick. Denn auch wenn sich im erweiterten Kreis des Kollektivs durchaus Männer finden wie der Musiker Hannes Gwisdek und der Videodesigner Sebastian Pircher: Glossy Pain ist ein weibliches Kollektiv. Und der Feminismus ein Thema, um das sie gar nicht herumkommen wollen: „Was sollen wir sonst machen?“, fragt Schmidt. „Wir sind Frauen, und lange Zeit kamen Frauen im Theater eben nicht so vor. Drum ist allein unser Vorhandensein schon feministisch.“ Und Stoll fügt hinzu: „Wir müssen radikal feministisch sein, solange wir in der Welt leben, in der wir nun mal leben. Das ist gar keine aktive Entscheidung. Man kann im Theater gar nicht unpolitisch sein: Sobald man sich raushält, reproduziert man den Status quo, und der ist nun mal misogyn und patriarchal, rassistisch und antifeministisch.“
Naivität und Positivität bewahren
Natürlich treffen sie als junges feministisches Kollektiv gerade einen Nerv in der Theaterlandschaft, die sich auch außerhalb von Quoten endlich um mehr weibliche Handschriften bemüht. Ob die feministische Entwicklung sich auch in der Gesellschaft außerhalb der Theater wiederfindet? „Grundsätzlich glaube ich schon, dass einige Sachen, die vor zehn Jahren durchgegangen sind, heute nicht mehr gehen“, so Schmidt. „Es gibt eine andere Schmerzgrenze. Und im Theater wird es wohl immer schwieriger, sich dem zu verwehren und alles beim Alten zu belassen.“ Auf der anderen Seite sehen sie auch, wie ein neuer Konservatismus aufkommt, wie die AfD an Zuwachs gewinnt. „Da kriege ich dann schon eine kleine Krise und denke: Scheiße, war das eigentlich alles nur Fake? Sind wir gar nicht weitergekommen?“, gibt Stoll zu. Dem deutschen Theater jedenfalls kommt dieses junge, frische, weltoffene Kollektiv gerade recht. Vor allem in Zeiten wie diesen. Nicht nur, weil es wieder einmal zeigt, dass Unterhaltung auch ernst und Ernst auch unterhaltsam sein kann. Sondern weil man den Produktionen von Glossy Pain anfühlt, dass die Werte, für die sie stehen, alles andere als Fake sind.
Was sie sich für die Zukunft wünschen? „Ich würde mich freuen, wenn wir es schaffen, an unserer Freund:innenschaft und unserer Zusammenarbeit festzuhalten, gleichzeitig künstlerisch zu wachsen und uns treu zu bleiben, auch unsere Naivität und Positivität zu bewahren“, so Stoll. Und fügt hinzu: „Cool wäre es natürlich auch, mal mit mehr Zeit und Geld arbeiten zu können.“ Aufgeben jedenfalls kommt nicht in Frage. Oder, wie es in „Sistas!“ einmal heißt: „Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung. Und alles dazwischen.“
Das Kollektiv Glossy Pain bezeichnet sich selbst als „multilingual theatre collective that works with international artists on feminist, anticapitalist and antiracist issues“. Gegründet wurde es 2020 in Berlin. Feste Mitglieder sind Riah Knight, Claude Breton-Potvin, Angelika Schmidt und Katharina Stoll.
Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 10/2023.