Filmkritik: Milo Raus „Das Neue Evangelium“
Foto: Das Letzte Abendmahl – letzte Vorbereitungen am Set zu DAS NEUE EVANGELIUM von Milo Rau © ©Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic Text:Anne Fritsch, am 25. Dezember 2020
Milo Rau versetzt in seinem Film „Das neue Evangelium“ die Leidensgeschichte Jesu nach Süditalien, nach Matera, wo bereits Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Passions-Filme drehten. Und wo ganz in der Nähe Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen und zur Tomatenernte ausgebeutet werden. Wie meist bei Milo Rau vermischen sich Historisches, Fiktionales und Dokumentarisches zu einem vielschichtigen Blick auf die Gegenwart. Den Jesus spielt im Film Yvan Sagnet, ein Aktivist aus Kamerun.
Jesus (Yvan Sagnet) mit seinen Jüngern in der Stadt in Milo Raus Film DAS NEUE EVANGELIUM ©Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic
Frederik Mayet hat 2010 den Jesus bei den Oberammergauer Passionsspielen gespielt. Auch 2022 wird er in dieser Rolle auf der Bühne stehen. Den Film hat er sich zusammen mit Christian Stückl, dem Spielleiter von Oberammergau seit 1990, angeschaut – im Atelier des Passionstheaters. In einer Online-Kritik im Dialog sprechen wir über unsere Eindrücke.
Frederik Mayet als Jesus Christus bei den Passionsspielen in Oberammergau © Birgit Gudjohnsdottir
Anne Fritsch Wie ist es für dich, diesen anderen Jesus anzuschauen?
Frederik Mayet Es gibt da viele Sätze, die ich mitsprechen kann. Aber auch viele Szenen, die wir gar nicht drin haben. Zum Beispiel, wie Jesus am Strand die Apostel einfängt. An einigen Stellen fühlt man sich erinnert, an anderen ist der Film dann wieder sehr anders. Vor allem wird einem der grundsätzliche Unterschied zwischen Film und Theater bewusst. Solche Kulissen wie zum Beispiel das Meer oder die weiten Panoramen haben wir im Theater natürlich nicht.
Anne Fritsch Das Oberammergauer Kernensemble war ja auf Vorbereitungsreise in Israel am Originalschauplatz. Wie ähnlich sind sich die Schauplätze denn wirklich?
Frederik Mayet Ich kenne den Pasolini- und auch den Mel-Gibson-Film, daher habe ich die Schauplätze wieder erkannt. Und Christian Stückl hat viele szenische Zitate aus dem Pasolini-Film entdeckt, den er für den besten Jesus-Film überhaupt hält. Tatsächlich schaut es da erstaunlich ähnlich aus wie in Jerusalem, vor allem aus der Ferne betrachtet.
Anne Fritsch Der Film spielt mit dem Kontrast zwischen der Altstadt von Matera, die wie eine pittoreske Filmkulisse wirkt, und den wenige Kilometer entfernten Baracken und Hallen, in denen die Flüchtlinge und Feldarbeiter hausen. Wie passend findest du die im Film gezogenen Analogien zwischen Jesus und dem Schicksal der Ärmsten in Italien?
Frederik Mayet Jesus war jemand, der an die Ränder der Gesellschaft gegangen ist und sich mit Stigmatisierten umgeben hat, mit Huren und Kranken. Er war dort, wo schwierige Verhältnisse sind. Natürlich ist es schwierig zu sagen, was Jesus heute tun würde. Wenn jetzt Leute sagen: „Jesus würde seine Oma an Weihnachten besuchen“, finde ich das ein bisschen bemüht, diese Vergleiche zu ziehen. Aber er war jemand, der Missstände gesehen hat, hingegangen ist und versucht hat, eine Verbesserung herbeizuführen. Wenn man jetzt die Region Matera anschaut, wo Flüchtlinge unter prekären Umständen leben und Frauen sich prostituieren müssen, wo Menschen ausgebeutet und von der Obrigkeit schlecht behandelt werden – dann ist das natürlich eine schlüssige Analogie zur Geschichte vor 2000 Jahren.
Anne Fritsch Wenn man Jesus nun als jemanden sieht, der Probleme, die sonst übersehen werden, in ein größeres Bewusstsein rückt und ein Aktivist für die Belange der Schwächsten ist – dann hat tatsächlich auch Milo Rau einiges von Jesus.
Frederik Mayet Ja, das stimmt.
Anne Fritsch Ist dieses Sichtbarmachen von Ungerechtigkeiten auch für euch in Oberammergau ein Kernpunkt in der Beschäftigung mit Jesus?
Frederik Mayet Wir beschäftigen uns in der Vorbereitung intensiv mit der Frage, was sagt uns Jesus heute? Und auch mit all den sozialen Aspekten. Wie geht man mit Flüchtlingen um und einer globalen Ungleichverteilung? Wie lebt man in einer Welt, in der es so wenige Reiche gibt und so viele Arme? Jesus sagt auch Sätze wie: „Es ist wahrscheinlicher, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Da finden sich sehr viele soziale Kritikpunkte. Und auch die Vermutung, dass der Reiche eben reich ist, weil er sein Gut einem anderen weggenommen hat. Deshalb fand ich es sehr spannend, in diesem Zusammenhang diese fürchterlichen Zustände in Italien zu zeigen. Man kann sich ja gar nicht vorstellen, dass in Europa Menschen so leben müssen. Ohne Wasser und Strom. Auch den Aktivismus von Jesus fand ich sehr schlüssig. Da habe ich mich auch gefragt, mit welcher Haltung ich 2022 auf die Bühne gehen werde, wenn ich diese Anliegen formuliere. Das hatte eine so große Dringlichkeit, wie die gesprochen und die Menschen mobilisiert haben. Dieses: Wenn ihr nicht für euch kämpft, kämpft niemand für euch. Ich glaube, genau diese Dringlichkeit braucht man, wenn man diese Geschichte erzählen will.
Anne Fritsch Im Film werden die Ebenen Gegenwartsdokumentation und Jesus-Kostümfilm wild durchmischt, dazu kommt noch eine Making-Of-Ebene. Letztere war mir zwischendurch zu viel.
Frederik Mayet Diese Making-Of-Ebene hat mich manchmal rausgeworfen und verhindert, dass ich mich wirklich auf die Figuren einlasse. Da war dann so eine Distanz, die eine wirkliche Empathie erschwert hat. Das war immer ein Schritt zurück aus dem Mitfühlen und Mitleiden.
Anne Fritsch Es gab ja diese eine sehr krasse Casting-Szene, wo einer der Bewerber sich in eine rassistisch motivierte Gewalt steigert und auf einen Stuhl, der Jesus verkörpern soll, einpeitscht. Das war sehr eindrücklich, wurde dann aber so im Raum stehen gelassen. Ich war mir nicht sicher, ob der das nun spielt oder ob er wirklich so ist.
Frederik Mayet Diese Szene fand ich auch am krassesten. Ich hatte aber das Gefühl, dass das geprobt war. Später bei der Dornenkrönung haben sie diese Brutalität ja auch gespielt. Darum hatte ich das Gefühl, dass die Szene vorher vielleicht improvisiert war, aber auf Anweisung.
Anne Fritsch Also nicht seine private Brutalität und sein persönlicher Hass.
Frederik Mayet Das ist meine Vermutung, weil er auch richtig gut gespielt hat.
Anne Fritsch Du sprichst oft von der „Feindesliebe“ als sehr wichtiges Element, wenn es um Jesus geht – findest du diesen Aspekt im Film wieder?
Frederik Mayet Die ganzen theologischen Fragen, die uns hier sehr beschäftigen, blieben im Film ein wenig außen vor. So auch die Feindesliebe. Wer hätte auch der Feind sein können? Es kam der Bürgermeister vor, der dann die Rolle von Simon von Cyrene übernommen hat, aber als Teil der Gesamtsituation wird er nicht hinterfragt.
Anne Fritsch Das war auch interessant, dass er als einziger Vertreter des „Regimes“, wenn man so will, sich gleich die Rolle geschnappt hat, in der er Jesus für ein Stück Weg das Kreuz abnimmt. Also eine Rolle, in der er gut dasteht. Ich fand es aber insgesamt auffällig, dass man die ganzen Aktionen gesehen hat wie die Demonstrationen und Kundgebungen, aber keinerlei Reaktionen. Es sind zwar ein paar Leute mitgegangen, die offensichtlich keine Feldarbeiter waren, aber ansonsten hat das Gegenüber gefehlt. Da hätte ich mir gewünscht, dass noch ein bisschen mehr kommt.
Frederik Mayet Es gab ein paar Polizisten, die ihren Job gemacht haben, aber eher unbeteiligt waren, und ein paar Passanten. Mir ist auch der Moment geblieben, als der italienische Aktivist auf einmal sehr genervt war von Milo Rau und seinem Team und gesagt hat, mir geht es hier um was und ihr wollt nur euren blöden Film machen. Der hat ja gesagt: Es müssen auch die Italiener sprechen. Also was du auch meinst: Wie geht es denn dem Farmbesitzer? Was sagt denn die Regierung zu den Zuständen?
Anne Fritsch Wie hast du das Finale im Film erlebt?
Frederik Mayet Der Bühnenbildner von Milo Rau war ja bei uns in Oberammergau und hat sich zeigen lassen, wie wir die Kreuzigung und auch den Selbstmord von Judas darstellen. Als Judas sich dann im Film am Baum erhängt hat, habe ich mich schon erinnert gefühlt an 2010 bei uns. Den Kreuzweg und auch die Kreuzigung fand ich sehr gut gemacht, den Schmerz in den Augen der Anwesenden, die Mimik von Maria und Johannes.
Anne Fritsch Die eigentliche Kreuzigung sieht man im Film nicht, gezeigt werden nur die Reaktionen in den Gesichtern der Zeugen. Mit Nahaufnahmen werden die Emotionen herangezoomt. Auf der Bühne in Oberammergau dagegen sieht man alles und diese Szene hat eine Wucht, der man sich schwerlich entziehen kann. Wie kriegt man einen so religiös-historisch aufgeladenen Vorgang glaubwürdig auf die Bühne?
Frederik Mayet Früher war das auch in Oberammergau ein Vorgang, der nicht offen auf der Bühne stattfand. Ich glaube, noch 1990 fand die Kreuzigung auf der Mittelbühne statt und als der Vorhang aufging, hing Jesus schon am Kreuz. Soweit ich erinnere, wurde 2000 das Aufstellen und Hinnageln zum ersten Mal auf der Bühne sichtbar. Das muss man natürlich so geschickt machen, dass das auch aus der ersten Reihe echt aussieht. Das ist ein ganz wichtiger Moment, auch für mich selber. Wenn man diese Hammerschläge hört und das Kreuz aufgestellt wird, das hat so eine Gewalt. Da bekommt man ein ganz anderes Gefühl für das, was da vorgeht: das ist ein brutaler Mord.
Anne Fritsch Ja, das hat mit der stillen Ästhetik eines Christus am Kreuz nicht mehr viel zu tun, wenn einem die laute Aktion dazu vor Augen geführt wird. Ich fand es tatsächlich ein wenig enttäuschend, dass der Film das nicht gezeigt hat. Das zu sehen und zu hören macht viel mit einem als Zuschauerin.
Frederik Mayet Mir haben auch ein wenig die Kreuzabnahme und die Pietà gefehlt, das ist nach dem Horror nochmal ein sehr intimer Moment. Da hatte ich drauf gewartet, wie sie das zeigen. Die Mutter und ihren toten Sohn. Diese Trauer um ein totes Kind, das ist wohl das Schlimmste, was es gibt.
Anne Fritsch Zum Schluss: Wie fühlt es sich denn an, wenn man auf der Bühne gekreuzigt wird?
Frederik Mayet Wenn man am Kreuz hängend aufgerichtet wird, spürt man, wie die Menschen mitleiden. Obwohl jeder weiß, was passieren wird, scheint doch jeder zu hoffen, dass es nicht so weit kommt. Auch wenn ich natürlich in diesem Moment nicht ins Publikum schaue, fühle ich, was da passiert. Ich hänge ungefähr 20 Minuten am Kreuz. Wenn ich meine letzten Worte spreche, ist eine unbeschreibliche Ruhe unter den Zuschauern. Sonst hört man immer ein Hüsteln oder irgendwas, aber dann ist es auf einmal mucksmäuschenstill.
Der Kreuzgang in Milo Raus Film DAS NEUE EVANGELIUM mit Yvan Sagnet als Jesus Christus (oben, ©Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic) und bei den Passionsfestspielen Oberammergau in der Inszenierung von Christian Stückl mit Frederik Mayet als Jesus Christus (unten, © Birgit Gudjohnsdottir)