Tanzperformance „Altalicious“

Theaterkunst aus der Slowakei: Das Festival „Nebenan/Zblízka“

In der Festivalreihe „Nebenan“ richtete das Festspielhaus Hellerau in Dresden dieses Jahr den Fokus auf zeitgenössische Theaterkunst aus der Slowakei. Mit Blick auf die desaströse kulturpolitische Situation im Land ist zwischen Performances, Workshops und Talkpanels auf dem Festival das Bedürfnis nach intergenerationalem Austausch und Verständnis spürbar.

„Das verstehe ich nicht“, sagt Katja Dreyer in „What’s the Story, Mum?“, während sie ihren Slowakisch sprechenden Bühnenpartner Peter Šavel ansieht. In der Performance erzählt die Künstlerin von 1968, vom Prager Frühling, als ihre Mutter beschließt, ihr Heimatland zu verlassen. Katja Dreyer, die nicht in der Slowakei aufgewachsen ist, kein Slowakisch spricht oder versteht, aber eine Art Sehnsucht nach einem Verstehen der Geschichte ihrer Mutter spürt, macht sich in ihrer Arbeit auf die Spurensuche nach Teilen ihrer eigenen Identität. Ihr künstlerischer Weg ist mit der Slowakei verknüpft, einem Land, das es als Heimatland ihrer Mutter so nicht mehr gibt.

Während der vier Festivaltage von „Nebenan/Zblízka. Unabhängige Kunst aus der Slowakei“ am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau finden zeitgleich Massenproteste gegen die Regierung in Bratislava und anderen slowakischen Städten statt. Seitdem ein populistisches Bündnis unter Premierminister Robert Fico an der Macht ist, kann das Land nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden. Angefangen mit der Einschränkung von LGBTQAI+-Rechten bis hin zur Kulturszene, der der Boden unter den Füßen weggezogen wird: Seit der Entlassung der Direktor:innen fast aller wichtigen Kulturinstitutionen, beispielsweise des fristlos entlassenen Generaldirektors Matej Drlička des Slowakischen Nationaltheaters.

Katja Dreyers Performance verbindet anhand ihrer Familiengeschichte die gewaltsame Niederschlagung der Reform des Sozialismus mit der heutigen politischen Situation, tastet sich durch Identitätsarbeit an die Geschichte des Landes, versucht diese zu begreifen, scheitert und gibt trotzdem nicht auf. 1968 war der Prager Frühling, 1989 der Wechsel vom Sozialismus zur Demokratie – Runde um Runde jagen Dreyer und Šavel im Hüpfschritt um ein großes Tuch, auf dem der Umriss der Slowakei gestickt ist. „Ich mache das Stück nicht nur als Tochter, sondern auch als Mutter“, erzählt die Künstlerin im Gespräch nach der Aufführung, „1989 war ich 15 und mein Sohn ist jetzt 14 Jahre alt“.

Kultur und Politik

Die Generationsarbeit, die Vernetzung von mehreren Zeitebenen zieht sich als roter Faden durch das ganze Festival in Hellerau. In „Tankodróm“, einer Performance von Katarína Markovás und Marlene Ruther, begeben sich die beiden auf eine Art Videospionage auf dem Tankodróm, einem ehemaligen Trainingsgelände für Panzer nahe der Stadt Martin. Im Video zieren alte Einschusslöcher Gebäuderuinen, Laster laden auf dem Gelände massenweise Erde ab. Schnitt. Ministerpräsident Robert Fico begutachtet auf der Baustelle für ein neues Krankenhaus ein riesiges ausgehobenes Erdloch. Schnitt. Kinder fahren auf Schlitten auf einem verschneiten Hügel auf dem Tankodróm.

Umbau von Rechtsstaat & Medienlandschaft mit Beáta Balogová, Zuzana Petková, Michal Vašečka & Soňa Weissová

Panel „Umbau von Rechtsstaat & Medienlandschaft“ mit Beáta Balogová, Zuzana Petková, Michal Vašečka & Soňa Weissová, Moderation: Kilian Kirchgeßner. Foto: Peter R. Fiebig

Künstler:innen und Theaterschaffende aus der unabhängigen Performing Arts Szene der Slowakei, aber auch Journalist:innen und Expert:innen sind zu „Nebenan/Zblízka“ eingeladen. Slowakische Theater präsentieren ihre Häuser und ihre Arbeit, in Panels mit Journalist:innen geht es um den „Umbau“ von Rechtsstaat und Medienlandschaft: Die Ermordung des Investigativ-Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnirová in deren eigenen Wohnung 2018 wirkt bis heute nach, Journalist:innen verlassen das Land, die öffentlich rechtliche Medienlandschaft wird regierungskonform umgekrempelt. Der RTVS (Rozhlas a televízia Slovenska, Hörfunk und Fernsehen der Slovakei) wurde 2024 formell aufgelöst und durch ein Staatsmedium ersetzt.

„Everyone in the world is irresponsible, do you know what that means? That we are irresponsible too!“ In einem absurd anmutenden Kinderspiel mit Schenkelklatschen, lauten Geräuschen und überdrehten Stimmen sprechen Katja Dreyer und Šavel ihr Mantra. Auf der Theaterbühne findet Dreyer durch Doppeldeutungen wie diese ein Moment der Selbstermächtigung. Auf der einen Seite ist da diese totale Hoffnungslosigkeit, erzählt sie, „auf der anderen Seite ist aber noch Hoffnung da, oder?“

Leiser Humor bis spitze Ironie sind ständige Begleiter bei vielen Arbeiten des Festivals. „The Good Times Are Over“ nennt Performer und Theaterregisseur Karol Filo seine Performance über Gespräche eines jungen Kunststudenten und seines Großvaters zwischen den Parlamentswahlen im September 2023 und den Präsidentenwahlen im März und April 2024 in der Slowakei. „Wählst du den prorussischen?“ – „Ja.“ Im Fernseher dahinter läuft eine Sendung über ungarische Jäger, die Fasane und Rebhühner schießen.

Einfache Bühnenmittel, klare Bilder

Gleichzeitig ist in den Performances eine ständige Fragilität und Verletzlichkeit auf der Bühne zu spüren. Im vermittelten Unverständnis und Ohnmacht gegenüber der Politik, im Versuch eines intergenerationalen Dialogs, in den Kugelhanteln, die sich Roman Škadra in der New-Circus-Performance „Girevik“ an die Füße und Arme hängt. Er balanciert die Kettleballs aufeinander, reiht sie wie Dominosteine in Reih und Glied, bevor sie klackernd und mit mathematischer Genauigkeit einander einen nach dem anderen umstoßen.

Eine männlich gelesene Person ordnet Kugelhanteln in einer Reihe an

Die New Circus-Performance „Girevik“ von Roman Škadra. Foto: Dainius Putinas

Die Arbeiten bei „Nebenan/Zblízka“ bedienen sich einfacher Bühnenmittel, es gibt wenig Requisite und oft klare, symbolische Bilder – und die Performances nehmen sich Zeit. Das Festspielhaus Hellerau bildet abseits der Dresdner Innenstadt einen geschlossenen Rahmen, eine Art Erlebnis-Insel für slowakische zeitgenössische Performance-Kunst und eine Plattform für Austausch innerhalb des zum Großteil auch slowakischen Publikums. Auch im Bewusstsein, dass es eine kleine Gemeinschaft ist, die sich hier zusammenfindet, während nebenan in der Slowakei Demonstrationen stattfinden und unmissverständlich zu beobachten ist, wie die Kunst- und Kulturszene immer mehr bedroht ist.

Finales Freitanzen

Als einen großen Teil der präsentierten Kunst finden auch choreografische Mittel ihren Raum. Den Abschluss bildet das Kollektiv „Studio ALTA“ mit tschechischen und slowakischen Tänzer:innen und der Performance „Altalicious“ zu rüttelnden Techno-Beats. Choreograf Peter Šavel, aus dessen Arbeit sich das Schütteln des eigenen Körpers zur künstlerischen Widerstandsgeste in Videos auf Social Media weiterentwickelt hat, nutzt diese Bewegung als Eröffnungsbild der Choreografie. In Pailettenoutfits zittern und glitzern die Körper, in scheinbar improvisierten Szenen reagieren die Tänzer:innen aufeinander, bewegen sich mal einzeln, mal als geschlossene Gruppe durch den Raum, bis aus dem Zittern immer selbstbestimmtere Bewegungen werden. Nach und nach wird das Publikum eingeladen, sich anzuschließen und bald füllt sich die Tanzfläche und die Bühne transformiert sich zum gemeinsamen Partyboden. Das wirkt wie ein Ventil für die Erlebnisse des intensiven viertägigen Festivals mit erfüllenden und fordernden künstlerischen und kulturpolitischen Auseinandersetzungen.

Dieser Text entstand im Rahmen des 5. Jahrgangs der Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus, einer Initiative des Bündnis internationaler Produktionshäuser.