Festival Fast Forward in Dresden: Jung, stark, weiblich
Foto: „Rage“ von Emilienne Flagothier © Margot Briand Text:Tobias Prüwer, am 18. November 2024
Das Dresdner Festival Fast Forward für junge Regie hatte dieses Jahr starke Frauen im Zentrum. Unser Kritiker sah mit „Rage“, „4.48 Pychosis“, „Scream Box“ und „I’m deranged“ vier überzeugende Inszenierungen.
„Wir spielen Szenen aus unserem Alltag. Und am Ende bekommen die Typen auf die Fresse.“ Der eingangs eingeblendete Text fasst gut zusammen, worum es in „Rage“ von Emilienne Flagothier geht. Unverblümte Rachefantasien kommen auf die Bühne. Macker und Machos holen sich hier nicht nur blutige Nasen, sondern nibbeln ganz ab. In diesem Jahr gab es Einiges an Wut, Gefühlsentladungen und starken Frauen auf dem Fast Forward-Festival zu sehen. Das Dresdner Format ist eine Werkschau junger europäischer Regisseurinnen und Regisseure.
Der Kritiker war an zwei Tagen unterwegs, konnte aufgrund langer Wege zu den über die Stadt verteilten Spielstätten weniger sehen als erhofft. Er hätte von Donnerstag bis Sonntag in Dresden weilen müssen, um alle acht Produktionen zu verfolgen. Was er sah, überzeugte.
Innere Klaustrophobie
„4.48 Psychosis“ (Regie: Nemanja Mijović/Serbien) von Sarah Kane warf das Publikum in eine seltsame Beobachtersituation. Im Karree sitzt es um eine kleine Spielfläche herum, ein Behandlungszimmer in der Psychiatrie. In seinem Rücken grenzt rundum einen Plastikvorhang den Raum ab. Das mag für einige klaustrophobisch genug sein – immer wieder glotzen Gesichter von außen durch den Vorhang und dicht am eigenen Kopf in die Bühne hinein.
Das Geschehen geht tief in die mentalen Eingeweide. Kanes Stück beschäftigt sich mit Schmerz und Todesangst, pathologischer Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Scham, Suizid. Auf Therapeutengespräche folgen Monologe. Dann gibt es Zwiegespräche mit jemanden hinterm Vorgang. Nichtfassbare innere und äußere Vorgänge werden so dargestellt, bleiben notwendigerweise schemenhaft. Sind das zwei Stimmen einer Person? Oder besser: Verschiedenen Zustände, in denen sie sich jeweils befindet? Das löst sich nicht auf, jedoch entsteht ein düsteres Abbild eines an sich und der Welt leidenden Menschen, das vor allem Mitleid erzeugt.
Rache und Endoskop
Hoch physisch geht es in „Scream Box“ zu, das nicht nur die Flimmerhärchen in den Ohren zum Zittern bringt. Von wenigen Menschen im Publikum werden sogar Würgreflexe laut, als eine Szene der assoziativen Performance in anatomischem Theater mündet: Mittels durch die Nase eingeführter Endoskopkamera untersucht Liisa Saaremäel (Text & Regie/Estland) ihre Stimmbänder und veranschaulicht ihre Funktion. Während ihr Sidekick das lustvoll kommentiert. Dieses Setting greift als Leitthema Schreien und Stimme konkret auf. Ansonsten geht es um körperliches Schreien, aber auch um Situationen, in denen sich nur der Kopf laut aufbäumt. Der lose Reigen hat starke Momente, ist oft einfach nur lustig, weil skurril. Manches erschließt sich nicht. Aber gerade Saaremäels Körperlichkeit und Stimmkraft, ihr Wille zur Grenzüberschreitung führen zu einer beeindruckenden Erfahrung.
Zurück zum Anfang: Dass sich „Rage“, die mordende feministische Wut, nicht totläuft, liegt an der Varianz und an Brechungen. Eigentlich hat man nach zwei Szenen das Konzept von Regisseurin Emilienne Flagothier (Frankreich/Belgien) verstanden. Vier Frauen entsorgen belästigende Täter, Exhibitionisten, Mansplainer und männliche Drama-Queens in Partnerschaften, die nur um sich selbst kreisen. Doch werden die Kerle – erkennbar an aufgeklebten Schnurrbärten – nicht einfach gemetzelt. Alle Waffen sind imaginiert, kommen nur akustisch zum Einsatz. Am Rand der weitgehend leeren Bühne steht ein Mikrotisch, an dem jeweils eine Performerin tötende Geräusche erzeugt. Jede Darstellerin erscheint wie eine Rachegöttin, wenn sie ans Pult tritt. Das Schaben eines Maurerspatels an einem Löffel simuliert Messer und Degen. Knochen knacken durch das Brechen von Lauchstangen. Das unterstreicht das comichafte Spiel, in welchem die vier Frauen mit herrlich überzogenen Bewegengen und Gesten überzeugen. Trotz des humoristischen Ansatzes wird die Kritik an einer patriarchal geprägten Gesellschaft und ihren Pathologien deutlich. Die trägt das Quartett so gekonnt vor, dass ein Teil des Publikums Erbauungsmomente erlebt und für andere ein Lehrstück-Charakter erfahrbar wird.
Entwurzelt im Dunkeln
Als packendste Produktion gefällt „I am deranged“ von Mina Kavani (Frankreich). Im intensiven Solo führt die regieführende Schauspielerin einen selbstgeschriebenen Text vor. Allein, direkt, verletzlich kreist sie um ihre eigene Entwurzelung. Von schwarzer Kleidung und schwarzen Haaren eingerahmt, scheint ihr ausdrucksstarkes Gesicht gleichsam durch den dunklen Raum zu schweben. Sie spricht davon, Bürgerin keiner Welten zu sein, als Geflüchtete kein Zuhause mehr in Teheran zu haben, aber nie in Paris angekommen zu sein. Sie träumte von der einen Stadt aufgrund der Freiheit, Künstlerin sein zu können und als Frau nicht unterdrückt zu werden. Doch blieb sie eine Fremde, die sich nach den Gerüchen und der Vertrautheit der alten Heimat sehnt.
Mit jeder Faser ist Kavani im Spiel engagiert und das Publikum ist die ganze Zeit bei ihr. Schade ist, dass man im textintensiven Monolog immer wieder die Augen von ihr lösen muss, um die projizierte Übersetzung zu lesen. Doch selbst mit dem Umweg über die Schrift und den abgelenkten Blick gelingt es der Schauspielerin, Unmittelbarkeit zu schaffen. Da reicht das Rauchen einer Zigarette vorn am Bühnenrand liegend, um einen Eindruck zu geben, wie sie einst auf einem Hausdach in die Nacht starrte. Ohne raumgreifende Bewegungen nimmt sie trotzdem die ganze Bühne ein. Der schwarze Kubus kommt einer Transitstation, einem Nichtort gleich. Lediglich zwei Spiegelflächen stehen im Hintergrund, die Kavani geschickt für einige Reflexionseffekte verrückt. Durchdacht und wirkungsvoll setzt sie Licht ein: Ein aufblendender Kegel von links erhellt ihr Antlitz, während nur durch diesen Keil sichtbarer Nebel zu ihr hinüber wabert. Ein Tor erscheint, wenn zwischen den Spiegelflächen ein Lichtschacht aufleuchtet. Und dort hindurch verschwindet die Frau ins Nichts. So wie auch der Kritiker durch die dunkle Dresdner Nacht den Rückweg antritt – und sehr froh über seine Programmwahl ist.