actori Interview

Ein Wohnzimmer für viele

Die Theater stehen vielerorts finanziell unter dem Druck von Sparmaßnahmen, ihre Position scheint in der Kulturpolitik geschwächt. Dabei rückt in den Hintergrund, dass Theater als Spiel- und Begegnungsräume Alternativen in einer krisenhaften Gesellschaft bieten können. Ein Gespräch mit Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele, die stark von Einsparungen der Stadt betroffen sind, Oliver Brunner, neuer Intendant am Stadttheater Ingolstadt, und dem actori Geschäftsführer Prof. Maurice Lausberg, der Träger und Theater in ganz Deutschland berät.

Wie ist die aktuelle Situation an Ihren Häusern, Herr Brunner, Frau Mundel?

Oliver Brunner Ich habe gerade meine Intendanz begonnen und fühle mich noch nicht in der Krise, sondern in einer großen, ernstzunehmenden Herausforderung.

Barbara Mundel Was uns trotz unserer unterschiedlichen Situation verbindet, ist die Frage, warum geraten Kultur und Kunst eigentlich unter solchen Beschuss? Ich rede da nicht nur vom Geld, sondern von einem AfD-nahen Verständnis von Kultur als Eliteveranstaltung. Oder: Kunst und Kultur als „Budgetproblem“ und nicht als Grundlage einer Gesellschaft.

Wie kann das Theater denn besser in die Stadtgesellschaft kommen? Frau Mundel, Sie haben vor fast 20 Jahren angefangen, das Theater Freiburg in die Stadt zu öffnen. Was war damals anders als heute an den Münchner Kammerspielen?

Barbara Mundel Freiburg ist eine andere Stadt. Das Theater dort ist das einzige große Haus. Und es ist ein Vierspartenhaus mit viel mehr räumlichen Möglichkeiten – ein Haus, Orchesterprobebühne, Tanzstudio, etc., sich niederschwelliger emotional in der Stadt zu verankern. Die Münchner Kammerspiele dagegen liegen zwischen der durchkapitalisierten Maximilianstraße und einem gigantischen Bauloch, kein freier öffentlicher Raum drumherum. Es gäbe dazu noch viel zu erzählen.

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Oliver Brunner (l.) und Barbara Mundel. Foto: Sebastian Schulte

Die Kammerspiele kämpfen schon seit längerem mit zurückgehenden Zuschauerzahlen. Wie erklären Sie sich das?

Barbara Mundel Die Geschichte des Hauses ist auch eine Geschichte mit Brüchen. Die Menschen, die jetzt fremdeln, fremdeln schon länger. Sie sagen, ihr Wohnzimmer ist ihnen weggenommen worden.Dieses Wohnzimmer, von dem da die Rede ist, das bezieht sich oft noch auf die Intendanz von Dieter Dorn und seinen Weggang an das Residenztheater, mit ihm sind viele Schauspieler:innen gegangen. Wir wollen ein „neues Wohnzimmer“ bauen, für unterschiedliche Menschen. Wir experimentieren mit dem „Habibi“ und dem Werk*raum als einem neuen Wohnzimmer mit Bar und längeren Öffnungszeiten, ein Schnittpunkt unterschiedlicher Interessen.

Oliver Brunner Ich bin damals als Mitarbeiter der Intendanz mit Dieter Dorn von den Kammerspielen ans Residenztheater gegangen und habe beobachtet, dass das Publikum sehr an bestimmten Künstler:innen hängt. Die haben gesehen, dass ihre Lieblingsschauspieler:innen jetzt am Residenztheater sind, drum sind sie ihnen gefolgt. In München spielt dieses Familiäre, die Menschen auf der Bühne, eine ganz große Rolle. Ich glaube, das bedeutet dieses „Wohnzimmer“ für die Leute. Von dieser Sehnsucht merke ich auch etwas in Ingolstadt, darum habe ich das gesamte Ensemble übernommen.

Haben Sie das Gefühl, den Tiefpunkt überwunden zu haben, Frau Mundel?

Barbara Mundel Ich glaube, dass wir insgesamt eine große und insgesamt positive Publikumsveränderung durchlaufen. Das heutige Publikum entscheidet viel volatiler, ist viel durchmischter. Wir haben ein tolles, begeisterungsfähiges Publikum. Aber im Großen Haus noch nicht so viele  Zuschauer:innen, wie wir brauchen und wollen, für spannende Inszenierungen und ein tolles Ensemble.

Maurice Lausberg Interessant ist doch, dass sich die Besuche an den Theatern zwischen 1955 und 2005 halbiert haben. Das lag sicherlich auch an dem deutlichen Zuwachs an Alternativangeboten und einem verschärften Wettbewerb im Freizeitmarkt. So gesehen ist es erfreulich, dass der Abwärtstrend seit 2005 gestoppt ist, und die Besuchszahlen seitdem bei rund 19 Millionen Besuchen zumindest stagnieren. Im Vergleich zu 12 Millionen Stadionbesuchenden in der Fußballbundesliga ist das immer noch eine stolze Zahl. Ich gehe davon aus, dass auch die zugenommenen Audience Development Aktivitäten den Besuchenden-Rückgang aufgehalten haben. Trotzdem müssen wir noch analytischer und datengetriebener verstehen, wie sich immer stärker fragmentierte Besucher- und Nichtbesucherstrukturen verhalten und was sie anspricht.

Wie interpretiere ich dann diese Daten? Bediene ich die Wünsche oder muss ich die Anstrengung verdoppeln, Publikum auf neue Wege zu locken?

Maurice Lausberg Das subventionierte Theater hat sicher nicht primär die Rolle, ein rein marktorientiertes Programm darzubieten. Gleichwohl gilt es doch, den Spagat zwischen Überfordern und Anbiedern erfolgreich zu gestalten. Außerdem gibt es nicht mehr ein Programm für alle. Im Zuge der zunehmenden Individualisierung und Diversifizierung der Gesellschaft braucht es passgenaue relevante Angebote für inzwischen sehr unterschiedliche Zielgruppen. Wie weit sind wir in der Lage, uns wirklich hineinzuversetzen und zu verstehen, mit welchen Angeboten wir jemanden über die Schwelle ins Theater holen? Hier wird häufig in alten Mustern gedacht. Kategorien wie z.B. Alter, Einkommen und Bildungsstand reichen nicht mehr aus.

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Maurice Lausberg. Foto: Sebastian Schulte

Wie lassen sich die Suche nach neuen Publikumsschichten, das Halten der vorhandenen Zuschauer:innen sowie aktuelle Formen und Inhalte miteinander verbinden?

Oliver Brunner Als ich 2019 in Darmstadt auf den Spielplan geschaut habe, habe ich mich gefragt: Wen interessieren diese ganzen Klassiker? Irgendwie fand ich es langweilig, obwohl ich aus der Tradition des Literaturtheaters komme. Also sind wir rausgegangen, haben erstmal ein halbes Jahr nur zugehört, recherchiert, Fragen gestellt. Irgendwann haben die Leute begriffen, die Theaterleute hören mir zu, ich kann mit denen reden. Da konnten sich zum Beispiel Menschen aus der Stadt bewerben und ein Theaterfestival planen, das wir dann ermöglicht haben. Wer einmal an so einem Projekt beteiligt war, trägt das in seine Community. Die Leute haben das Gefühl, sie kommen da vor – und dann kommen sie auch.

Wie kann das mit klassischeren Theaterproduktionen funktionieren?

Oliver Brunner Was mir die Augen geöffnet hat, war eine Muslima aus einem Vorort von Darmstadt, die gefragt hat: „Warum soll ich zu euch kommen, wenn ihr Emilia Galotti spielt? Was hat dieses Stück mit mir zu tun?“ Wir haben dann mit ihr eine Stücküberschreibung gemacht, in der sie selbst mitgespielt hat. Sie hat im Stück einen Vortrag über strukturellen Rassismus gehalten und sich gesehen gefühlt. Das hat auch bei uns zu einer Bewusstseinsveränderung geführt. Ich habe Klassiker in den letzten Jahren eigentlich immer als Überschreibung gemacht. Das ist eine Erweiterung, und das Abo-Publikum geht auch mit.

Barbara Mundel Was du gesagt hast, Oliver, das beschäftigt mich auch: Was bedeutet es, dass so viele Menschen sagen; „Ich möchte gehört werden.“ Oder: „Ich werde nicht gehört.“ Was sagt das über die Verfasstheit unserer Gesellschaft und das Individuum?

Wie reagieren Sie denn darauf?

Barbara Mundel Wir möchten  die Stadtgesellschaft anders, kraftvoller einladen, als Ganzes, bis in die entlegenen Orte zu kommunizieren. Dazu muss ich den Ort stärker behaupten können, das braucht mehr als die Bühne. Der Habibi-Kiosk ist so ein Ort, der die Schwelle niedriger legt, aber ich glaube, wir müssen den Straßenraum noch irgendwie anders kriegen. Kooperationen sind eine andere Möglichkeit. Und faszinierende Kunst!

Wie könnte ein Stadttheater der Zukunft aussehen?

Barbara Mundel Für mich bedeuten Kunst und Theater erstmal das Erleben, dass die Welt auch anders aussehen könnte, veränderbar ist. Kunst schafft Möglichkeits- und Empathieräume. Und die Menschen suchen Orte, in denen sie sich willkommen fühlen. 

Aber ist ein Theater für alle überhaupt möglich?

Maurice Lausberg Theater für alle ist natürlich wünschenswert, aber dafür braucht es entsprechende Ressourcen und Infrastrukturen. Das fängt schon damit an, dass bei Theatersanierungen eine verstärkte Öffnung z.B. durch Dritte Orte, Education Facilities oder digitale Infrastrukturen mitgedacht werden muss. Theater für alle heißt auch, dass sehr unterschiedliche Programme für eine zunehmend vielfältige Gesellschaft gestaltet und vermarktet werden müssen. All das ist zusätzlicher Aufwand. Die Übernahme von Bildungsaufgaben, die dezentrale Bespielung der städtischen Räume, gesellschaftliche Inklusion, Teilhabe, digitale Angebote und das alles am besten auch noch nachhaltig und kostenlos wird man nicht ohne zusätzliche Mittel stemmen können. Viele Betriebe sind schon heute mit den vielen Zusatzprojekten, die außerhalb des klassischen Bühnenbetriebes und jenseits der vorhandenen Infrastrukturen stattfinden überfordert. Hier braucht es realistische Strategien und Planungen.

Barbara Mundel Das gilt auch für die Kammerspiele. Wir haben ohnehin ein großes Thema, das wir langfristig in der Struktur verankern wollen: die Inklusion. Damit sind wir sehr beschäftigt und herausgefordert. Wir wollen die Bühnentechnik mitnehmen, es gibt Workshops für das ganze Haus. Ich möchte, dass es als ein künstlerisches Projekt in der DNA des Theaters ankommt.

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Anne Fritsch und Oliver Brunner. Foto: Sebastian Schulte

Herr Lausberg, haben sich die Theater in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu sehr um sich selbst gedreht?

Maurice Lausberg Vielleicht leben viele Theater noch zu sehr in veralteten Vorstellungen, wer das Publikum ist oder wie es zu sein hat. Die Nutzung von Daten und von KI bietet hier eine riesige Chance Licht ins Dunkel zu bringen. Die KI Software Firma future demand beispielsweise kann prognostizieren, wer sich für welche Vorstellung aus welchen Gründen interessiert, und mit welchen personalisierten Botschaften unterschiedliche Besuchende angesprochen werden können. Die Zukunft der Publikumsansprache ist digital und individuell. 

Einige der Probleme von heute haben wahrscheinlich einen sehr langen Vorlauf.

Barbara Mundel Ja, da kommt viel zusammen, viele politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Ich möchte auch kein rein Community-basiertes Theater machen, sondern ein Ort sein, an dem sich Menschen begegnen und Gespräche entstehen über Inhalte und verschiedene Perspektiven und ein Ort für neue fremde Kunst! Ich möchte nicht, dass Gruppen immer unter sich sind. Das ist die eigentliche Herausforderung. Die Idee muss doch sein, dass das Theater ein Ort ist, an dem es zu relevanten Begegnungen kommt, ein Wohnzimmer für viele.

Um das Theater als so einen Ort zu etablieren, muss es ein Ort werden, der für alle zugänglich und selbstverständlich ist. Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang das Kinder- und Jugendtheater?

Barbara Mundel Ich glaube, dass Kunst und Theater zur Bildungsbiografie eines jeden Kindes gehören müssen. Aber die Bildungspolitik in Deutschland ist total in die andere Richtung gelaufen, hat Begegnung mit Kunst aus der Schule outgesourced. Jedes Kind sollte diesen Möglichkeitsraum betreten dürfen.

Wie gehen Sie das in Ingolstadt an, Herr Brunner?

Oliver Brunner Es gibt in Ingolstadt eine eigene Sparte Kinder- und Jugendtheater. Und die habe ich natürlich beibehalten. Das junge Theater ist in der Ansprache von Publika viel weiter als der Abendspielplan. Da gibt es unterschiedliche theatrale und auch nonverbale Erzählformen wie den Tanz, um ein diverses Publikum abzuholen und nicht nur über Sprache und Bildung zu gehen. Was ich auch übernommen habe, ist der Kinderbeirat Chaos-Panther. Die spiegeln dem Jungen Theater, was ihnen nicht passt, was nicht vorkommt und was auf dem Spielplan stehen sollte.

Die Kammerspiele haben die Zusammenarbeit mit der Schauburg, dem Kinder- und Jugendtheater der Stadt München, intensiviert. Es finden zum Beispiel Vorstellungen der Schauburg in den Kammerspielen statt. Wollen Sie den Übergang vom einen ins andere Haus leichter machen, Frau Mundel?

Barbara Mundel Die beiden Theater gehören zusammen, sind aber räumlich getrennt. Dadurch sind die Kinder und Jugendlichen erstmal nicht bei uns im Haus. Ich bin mit Andrea Gronemeyer, der Intendantin der Schauburg, in einem intensiven Kontakt. Wir wollen die Jugendlichen, die aus Altersgründen nicht mehr in die Schauburg gehen, nicht verlieren. Darum laden wir die Schauburg-Produktionen für die Älteren auch zu uns ein, damit die zumindest einmal schon den Weg hierher gefunden haben.

Und das hat funktioniert?

Barbara Mundel Ja. Allerdings hat das angestammte Kammerspiel-Publikum darauf verhalten reagiert nach dem Motto „Jetzt machen die auch noch Jugendtheater“. Das finde ich schon erstaunlich, diese High-Performance-Haltung, diese Widerstände. Aber da ist Luft nach oben, die wir zu nutzen wissen.

Wie kann man mit all diesen Widerständen und Ängsten umgehen, sie vielleicht in der Stadt auflösen?

Oliver Brunner Ich habe in Ingolstadt einen alternativen Theaterbeirat etabliert, die Critical Friends. Und ich habe eine Stadtdramaturgin eingestellt, die Beziehungsarbeit mit den verschiedenen Communities macht. Das Theater ist im Altstadtkern, die meisten Menschen aber wohnen außerhalb und kommen da gar nicht hin. Und da macht sie eben Beziehungsarbeit, da muss das Theater eben irgendwie vom Sender zum Empfänger werden und hinhören. Nur so kann eine Rückkopplung mit den Leuten entstehen.

Herr Lausberg, was ist Ihr Rat an die Theatermacher:innen, damit sie insgesamt mehr Wirksamkeit in ihrer Stadt erreichen können?

Maurice Lausberg Vor dem Hintergrund der aktuellen Spardebatten würde ich mich im Moment darauf fokussieren, die vorhandene Relevanz des Theaters im politischen Raum stärker herauszustellen und möglichst quantitativ zu untermauern. Wie kann ich künstlerische Exzellenz, kulturelle Vielfalt und Innovationsbeiträge belegen und herausstellen? Umwegrentabilität, Beiträge zu Bildung und gesellschaftlichem Zusammenhalt gilt es mit Fakten zu hinterlegen. Und wenn es hart auf hart kommt, können Zukunftsszenarien, die nüchtern und verständlich aufzeigen, welche Konsequenzen Zuschusskürzungen haben würden, sehr hilfreich sein.