Spuren der Iron-Dome-Raketenabwehr am Himmel über Gan Yavne in Israel

Ein Brief aus Israel von der Regisseurin Sapir Heller

Schön zugleich / und schrecklich anzusehen
Friedrich Schiller, „Die Jungfrau von Orleans”, I,9

Sapir Heller ist Theaterregisseurin. Sie wurde 1989 in Israel geboren und lebt seit 2008 in München. Zuletzt inszenierte sie am Nationaltheater Mannheim und am Volkstheater München. Danach wollte sie Urlaub machen – in Israel.

Letzten Freitag bin ich mit meinem Mann und unseren Kindern nach Israel geflogen, zu meiner Familie, die wir wegen Corona schon 1 ½ Jahre nicht besuchen konnten. Wir sind am Tag nach dem Live Stream meiner Inszenierung „Das hässliche Universum“ am Münchner Volkstheater geflogen, die mit dem NachSpielPreis des Heidelberger Stückemarkts 2021 ausgezeichnet wurde. Wer hätte gedacht, dass das Weltuntergangsgefühl, das im Zentrum des Stückes von Laura Naumann steht, ausgerechnet während eines Urlaubs Realität wird.

Ich bin in Israel groß geworden. Ich kenne die Unruhen, die es hier immer wieder gibt. Und ich weiß auch, dass man sehr gut ausweichen und in einer Traumwelt leben kann. Das war mein Wunsch. Nach 1 ½ Jahren Corona möchte ich genau das: die Traumwelt, die eigene Utopie. Daran ändern auch 14 Tage häusliche Quarantäne bei meinen Eltern nichts – sie haben ein schönes Haus mit Garten und Freunde und Familie dürfen uns besuchen. Das Haus ist in Gan Yavne, einem kleinen Ort bei Ashdod, ziemlich genau zwischen Tel Aviv und Gaza, jeweils 35 Kilometer von beiden Städten entfernt.
Der Schutzraum von Sapir Hellers Familie

Der Schutzraum der Familie von Sapir Heller

Wer hätte gedacht, dass die Situation hier so schnell kippt? Es ist alles extrem schnell gegangen. Alles ist…  ja…  ich habe kein anders Wort, EXTREM geworden. Auf der einen Seite extrem schön. Auf der anderen Seite extrem schrecklich. Wir übernachten im Schutzraum – eine Art überirdischer Bunker, wenige Quadratmeter groß und Teil des Hauses. Nachts gibt es hier sehr viele Alarme und Raketen und ich bin froh, dass meine Kinder (1,5 und 4) davon nicht aufwachen. Tagsüber haben wir 40 Sekunden Zeit, dorthin zu rennen, wenn der Alarm zu hören ist… Ich bin erstaunt, wieviel man in 40 Sekunden schafft. Aus der Dusche heraus, Kind schnell einpacken, schauen, dass alle wirklich da sind, Tür zumachen. Boom. Und alles bitte möglichst ruhig, damit die Kinder keine Panik mitbekommen. Zwischen den Alarmen, wenn es ruhig ist (teilweise Stunden lang), haben die Kinder es sehr, sehr schön im Garten, die Sonne scheint und es ist toll mit der Familie. Ein komischer ambivalenter „Urlaub“. Der Sprung zwischen dem Planschbecken mit Eis in der Hand und dem Schutzraum, in dem du versuchst, deine Kinder zu beruhigen, ist unbeschreiblich.
Gartenidylle in Gan Yavne

Gartenidylle in Gan Yavne

Aber den Humor lassen wir uns nicht nehmen. Das ist unserer Umgang, unsere Eigentherapie, unsere Überlebensstrategie. Nicht weniger als das. Auch im Schutzraum versuchen wir, das Lächeln zu behalten und Limonade aus den Zitronen zu machen. Mein Kleiner versteht zum Glück die Situation nicht. Er denkt, dass wir mehrmals am Tag Pyjama-Party im kleinen Schutzraum machen. Der Große fragt sehr viel. Er macht den Alarm spielerisch nach und sagt, dass er damit meinem Bruder (seinen Onkel) ruft, damit er schnell kommt und mit ihm spielt. Es ist schlau. Und kreativ. Und erschreckend. Ich wünsche mir nicht, dass mein Sohn „Alarm und Schutzraum“ spielt.

Nachts schreibe ich Briefe für das Projekt „Cecils Briefwechsel – Ein Post-Drama“ am Nationaltheater Mannheim. Die Teilnehmer stehen mit einer fiktiven Figur namens Cecil in einem Briefwechsel über die Verbindung zwischen Männlichkeit und Gewalt. Diese Briefe werden von einem größeren Team beantwortet. Wir teilen die Teilnehmer untereinander auf. Ich bin also für manche Teilnehmer selbst Cecil. Und die wissen natürlich nicht, dass „ihre Cecil“ die Briefe an sie nachts in einem Schutzraum in Israel formuliert. Die Gedanken und der Austausch über männliche Gewalt lassen mich nicht los, gerade in der aktuellen Situation hier.

Geht es hier auf allen „Seiten“ um eine Art Männlichkeitsbeweis? Um bloße Machtvorführung? Und das alles steht über der eigenen Sicherheit und der unserer Kinder? Wie ist es dazu gekommen? Ich möchte keine Schuldigen suchen. Das wird uns nicht weiterbringen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit finde ich NUR wichtig, wenn wir uns dadurch mit unserer Gegenwart beschäftigen und ein besseres Jetzt für uns alle schaffen können. Ich möchte meinen Kindern zeigen, dass es auch anders geht. Aber das geht nur, wenn viele, sehr viele, von allen „Seiten“, dies auch zeigen wollen. Ich bin frustriert davon, dass Menschen sich nicht in die Augen schauen können, ohne Angst zu haben. Die Pauschalisierungen sind normal geworden, eine gängige Sache. „Alle Juden sind…“; „Alle Araber wollen…“ Und das nicht nur „gegen“ Hamas in Gaza, sondern auch innerhalb Israels. Und ja, ich habe Angst. Ich habe Angst um meine Familie, um die Menschlichkeit, die in meinem Land verloren geht, um die Blase, die allen gerade ins Gesicht platzt. Sie haben einfach keine Interesse mehr, es besser zu machen.

Das schlimmste ist, dass ich langsam das Gefühl habe, dass wir uns dran gewöhnen. Dass es geht. Dass wir es trotz allem schaffen, unseren schönen Urlaub zu genießen. Ich möchte nicht diese Normalität für meine Kinder haben. Aber wenn ich über antisemitische Übergriffe lese, die aktuell in Deutschland passieren, mache ich mir sehr viele Gedanken. Ist Deutschland gerade der sicherere Ort für Juden? Die Frage an sich finde ich ziemlich absurd. Ich würde gerne in einem geschützten Raum leben, in einer Umgebung, die die Unterschiede der Individuen akzeptiert, respektiert und auch feiert.

Lasst uns diesen Raum schaffen. Es fängt bei jedem Einzelnen von uns an.

Das Schreiben dieses Artikels wurde zweimal durch Raketenalarm unterbrochen.

 

Sapir Heller und ihre Kinder beim Essen im Schutzraum

Sapir Heller und ihre Kinder beim Essen im Schutzraum