Divers statt fixiert
Foto: Szene aus „I’m Still Excited!” © Alípio Padilha Text:Michael Laages, am 6. November 2023
Das Dresdner Festival fast forward zeigt Europas junge Theaterszene enorm divers – aber nicht so fixiert auf den politischen Alltag wie im deutschsprachigen Raum. Statt Klimakatastrophe und gesellschaftlicher Diskurse stehen Autorenschaft und Texte im Mittelpunkt.
Ausgerechnet das sparsamste Stück, das am weitesten entfernt war von jeder Art Spektakel und sich nur einen szenischen Zaubertick gönnte, sammelte gleich zwei der Preise beim Dresdner Festival fast forward ein: den Hauptpreis und den Preis des Publikums: „Koulounisation“ von Salim Djaferi.
So viel Zustimmung ist nicht die Regel – zumal die von mehreren belgisch-wallonischen Bühnen und Institutionen getragene Produktion vor allem ein Solo ist, beinahe eine Lecture Performance, also ein Vortrag mit überschaubarer Ausstattung. Aus der Perspektive der Sprache erzählt Djaferi von Strategien und Methoden französischer Kolonialpolitik in Algerien. Wie hat die europäische Großmacht diesseits vom Mittelmeer die eigenen Interessen durchzusetzen gewusst im Kernland des afrikanischen Nordens mit den Mitteln des geschriebenen und gesprochenen Wortes?
Doppelt preisgekürt: „Koulounisation“
Die eigene Familie ist Djaferis Zeuge. Er fragt, blättert die Geschichten von Eltern und Verwandten auf, recherchiert unter Freundinnen und Freunden wie bei Institutionen, die eine Rolle spielten in der Unterdrückung arabischer Traditionen von Sprache und Kultur zu Gunsten der französischen Vormacht. Das beginnt bei den Namen der einzelnen Menschen wie der Städte und Regionen, aus denen sie stammten – ob sie nach Frankreich herüberkamen oder in Algerien blieben. Die Macht des Wortes bestimmte das Leben wie das Überleben. Und bis in die Gegenwart wird über die Sprache auch die Geschichte des Befreiungskampfes zu verdecken versucht – wie die der „Koulounisation“ an sich. Die ungewohnte Schreib- und Sprechweise entdeckte Djaferi, als er zu suchen begann. Und er fand noch vieles mehr.
Aus Styroporplatten baut er sich Wände und Schranken, die koloniale Geschichte bestimmen, damals wie heute. Und wie Syntax und Grammatik die Geschichte eines Volkes, ja das Volk selber zum Verschwinden brachten, so verschwindet auch Djaferi zum Schluss (und in der Begegnung mit europäischen Ämtern und rassistischen Regeln) in einem Gefängnis aus weißen Wänden. Partnerin Delphine de Baere hilft ihm dabei. Aber vor allem sind Theater und Publikum gefangen – in und mit der Macht der Sprache.
Sprache im Zentrum des Festivals
Sprache steht im Zentrum dieser Ausgabe des traditionsreichen Festivals, das Dresdens Schauspiel-Intendant Joachim Klement einst in Braunschweig gegründet hatte. Immer war die ETC, die European Theatre Convention, als Verband europäischer Bühnen mit im Spiel. Wichtiger als in vielen Ausgaben zuvor ist wieder der Text, sei er nun klassisch verwurzelt und interpretiert oder frisch und aktuell entstanden; geschrieben oder überschrieben.
In der theatralisch herausforderndsten Produktion begibt sich das junge finnische Team um Regisseurin Minna Lund mitten hinein in Tschechows „Kirschgarten“, folgt aber nur einigen Konstellationen und erzählt die Fabel darüber hinaus völlig neu; durchschießt sie zudem mit der Struktur des „Fightclub“-Romans von Chuck Palahniuk, verfilmt von David Fincher. Da bleibt kein Baustein auf dem anderen, Tschechows zentrale Leidensfigur Warja wird gar zum Hund des Hauses, und Tyler Durden, zentrale und Regeln setzende Figur im „Fightclub“, ist der, der zu Beginn die Vernichtung des Kirschgartens ankündigt. Ab jetzt sind alle verstrickt in familiäre Kämpfe, etwa ums Erbe. Das Publikum sitzt um eine große Tischplatte herum, wir bekommen finnischen Kirsch(garten)likör zu trinken und ab und an mal einen Spritzer Kunstblut oder Schlimmeres ab.
Aber soweit der wilde Abend ins Spektakel hinüberreicht, so fest bleibt er verwurzelt in Tschechows Geschichte: eine Highlight, womöglich auch für andere internationale Festivals.
Ein unverständlicher „Woyzeck“
Und es gab noch mehr „Überschreibungen“: Aus dem „Theater an der Ruhr“ in Mülheim kam die „Woyzeck“-Variante von Glossy Pain in der Inszenierung von Gruppenmitglied Katharina Stoll. Aber gerade sind so viele interessante neue Blicke auf das moderne alte Stück am Start, dass der Mülheimer Ansatz deutlich hinter dem eigenen Anspruch zurück bleibt. Franz Woyzeck aus einer anderen Etage im gleichen Mietshaus ist jedenfalls extrem gemütvoll-zeitgenössisch, immer wieder bringt er selbstgebackenes Brot mit in den Haushalt von Marie (deren Mitbewohnerin ihrerseits dem Zauber der jungen Frau erliegt). Der finale Mord aber ist noch weniger verständlich als ohnehin schon.
Eine Paarkatastrophe in „I’m still excited“
Gar nicht so weit vom Mord siedelt „I’m still excited“, die portugiesische Paar-Geschichte von Autorin und Regisseur Mario Coelho. Seit einiger Zeit getrennt, verstricken sich beide an ihrem Geburtstag noch einmal schmerzhaft in das gegenseitige Nicht-Verstehen, auch wenn sie zwischenzeitlich „Liebe“ behaupten. Aber da ist nichts zu retten. Obendrein lassen sie ein jüngeres Paar die eigene Katastrophe nachspielen: für einen Film. Das ist rasant und lässt keinen Ausweg. Die Autorin kann sich für den Ex-Lover schließlich nur noch den nahen Tod vorstellen. Ob sie ihn aber wirklich loswerden wird?
Gelegentlich drängen sich Martha und George ins Spiel, das zerstörerische Paar aus Edward Albees Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Die freie Produktion aus Portugal ist keine Überschreibung – aber sie lässt parallele Welten denken. Die norwegisch-dänisch-schwedisch-deutsche Kollektiv Boys* in Sinc tut derweil nur so, als überschriebe es Carl Zuckmayers Volksstück „Der fröhliche Weinberg“. Und es tut auch nur so, als bestehe da ein Zusammenhang zwischen Zuckmayers Stück und Hitlers Hass-Schrift „Mein Kampf“ – weil beides 1925 entstand. Tatsächlich ist die Produktion „Second Season“ nur ein Spiel über Menschen im Dauersuff. Für mehr als eine clowneske Farce ist das dann doch nicht genug.
Homosexualität in Serbien: „Our Son”
„Our Son“, ein Familienstück von Patrik Lazic, wurde daheim in Serbien zum Skandal, weil hier ein ebenfalls in Streit verbundenes Trennungspaar lernen muss, mit der Tatsache umzugehen, dass der Sohn homosexuell ist und alle gewohnten Lebens-Strategien hinter sich lassen wird. Er verlässt die streitenden Eltern – mit dem Freund. Das Stück wird daheim in Serbien nicht in Theatern, sondern in Wohnzimmern gespielt. In Dresden vergab die Jugend-Jury ihren Festival-Preis an „Our Son“.
Mit am Beginn des Festivals stand auch „Goodbye, Lindita“, eine stumm und zutiefst verrätselte, von Verwerfungen kultureller, sozialer und religiöser Tradition erzählende Familien-Phantasie von Mario Banushi. Hier bewahren Eltern eine tot wirkende, nackte Tochter im Schrank-Klapp-Bett auf. Mit dem Erwachen der Frau aber kehren fast vergessene Rituale zurück in den Alltag. Der Abend ist faszinierend choreografiert. Banushi hat darin biografische Motive der albanischen Heimat wie des griechischen Exils verarbeitet. Wie die finnische, so sollte auch die griechische Produktion auf internationalen Festivals willkommen sein.
Das Dresdner Festival zeigt Europas junge Szene enorm divers – dabei aber nicht so fixiert auf den politischen Alltag wie im deutschsprachigen Raum. Nirgends droht die Klimakatastrophe, nirgends lauert der politisch-gesellschaftliche Diskurs-Marathon wie hierzulande immerzu und überall. Stattdessen wird durchaus Erinnerung beschworen an ein paar grundsätzliche Dinge: an den Autor und den Text als Basis für Regisseurin und Regisseur und an Schauspielerin und Schauspieler, die Ideen mit Leben füllen.
Und immer ist jeder und jede gefragt, ein bisschen von sich selber einzubringen, auch als Publikum: An einem Abend zieht ein kleiner Chor die Königsbrücker Straße herab zum Theater und bereichert den Klang der Stadt durch eine stimmungsvolle Karaoke-Mitsing-Show. Dresden und das Theater-Festival haben es möglich gemacht.