Drei Aufführungen auf einen Streich
Foto: „Dreier steht Kopf" am JES © Alex Wunsch Text:Manfred Jahnke, am 11. Juli 2021
Unser Autor Manfred Jahnke sah am 11. Juli DREI verschiedene Inszenierungen in Stuttgart. Das Theater ist zurück, in diesem Fall sogar mehrfach.
11. Juli 2021, Stuttgart: ein heißer früher Nachmittag. Durch die Königstrasse drängen Massen, als gäbe es keine Pandemie mehr. Aber Ordnung muss sein. Das ist wie in der Mathematik: Eins bleibt immer die Eins, die Zwei immer die Zwei. Also wird auch immer der Erste Erster bleiben, so sehr sich der Zweite auch bemüht, diese Position einzunehmen. Carsten Brandau dekliniert das in seinem Stück für ein junges Publikum ab 4 in „Dreier steht Kopf“ durch, vom autoritärem Eingriff bis hin zur Sehnsucht nach einer Hinwendung von Zweier. Eine Lösung scheint unmöglich, wenn nicht die chaotische Vogelwelt locken würde, in der alle Hierarchien aufgehoben scheinen. Aber noch eines kann das Ordnungsprinzip erheblich stören, wenn nämlich ein Dritter hinzukommt. Der wirbelt die Rangfolgen erheblich durcheinander, zumal dieser nicht einfach hinnimmt, sondern hinterfragt und da bei Mathematik alles Axiom ist…
Aber erst einmal an der Theaterkasse des Jungen Ensemble eine Karte wie die circa anderen 45 Zuschauer geholt, auf der Reihe und Platznummer angegeben sind, damit der Abstand gewahrt werden kann; dazu die Erinnerung an die Maskenpflicht, das gehört mittlerweile zum festen Theaterritual. Andreas Weinmann, aufgewachsen in den JES-Spielclubs und noch Regiestudent an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, entwickelt „Dreier steht Kopf“ als feine psychologische Studie zweier Clowns. Schüchtern lehnt Faris Yüzbasioglu als Zweier an der Tür, weil Milan Gather als Einer noch nicht auf der Bühne ist. Wenn Musik erklingt, bewegen sich beide in einer strengen Choreographie. Sie sind grotesk ausgestattet (Ausstattung: Lisa Chiara Kohler). Einer in einem Frack in Alrosa, Zweier in einem grünlichen Anzug. Im Bühnenraum steht ein großer Kubus aus verschieden großen Quadern, sowie kleinen Pyramiden und Kugeln. Aus denen fallen Teile heraus, was die Alltagsroutinen der beiden durcheinander bringt, bis dann Dreier, er ganz normal gekleidet, aus dem Kubus hervorkommt. Diesen Dreier spielt Gerd Ritter, der seine wunderbar leichte Kunst ganz dem Theater für ein junges Publikum widmet. In jeder Sekunde präsent spielt er seine Rolle mit leicht komischen Tönen. Selbst in der Körperhaltung spiegelt sich die Haltung seines Fragens. Es macht Spaß ihm zuzusehen, wie die ganze Inszenierung dem nicht nur jungen Publikum auf der Probebühne des JES Spaß macht, wenn zum Schluss hin der Inszenierung auch Überraschungsmomente fehlen.
Nach so viel existentieller Erforschung der Frage, wie das Autoritäts- im Ordnungsprinzip sinnvoll unterlaufen werden und wie schön ein schöpferisches Chaos sein kann, geht es vom Jungen Ensemble Stuttgart zum Kammertheater des Staatstheaters durch ein noch immer großes Gedränge in der Fußgängerzone und einem Schlosspark, in dem umgestürzte Wurzelstrünke herumliegen. Hier hat vor Tagen ein Unwetter gewütet, das auch das Dach des Opernhauses beschädigt hat, das nun vor der Oper eingezäunt wie eine zu schützende Plastik liegt. Ausfüllen des Formulars für das Gesundheitsamt, Schilder verweisen auf die Maskenpflicht. Ganz so stürmisch, wie ein paar Tage zuvor im Schlosspark geht es in „Leuchtfeuer“ von Nancy Harris zwar nicht zu, aber in diesem Psychodrama geht es immerhin darum, dass Beiv, berühmte bildende Künstlerin, auch frauenbewegt, ständig mit dem Verdacht konfrontiert ist, dass sie ihren Mann, der auf hoher See verschollen ist, ermordet hat. Deshalb hat ihr Sohn Colm – auch er glaubt daran, dass seine Mutter etwas mit dem Tod des Vaters zu tun hat – sie verlassen; er ist nach Amerika gegangen, kehrt aber nun mit seiner gerade angetrauten Frau Bonnie zurück, um nach der Wahrheit zu forschen. Aber es ist nicht nur der Sohn, der ihr einen Mord an ihrem Mann unterschieben möchte, sondern die ganze Insel, die Steine auf die Baustelle des Hauses werfen oder sie heimlich fotografieren.
Für die Inszenierung von Sophia Bodamer hat Oliver Helf eine Bühne geschaffen, die einem Baugerüst ähnelt, das im Wasser steht. Ein alter Kühlschrank, zwei alte Stühle, ein leerer Bierkasten und Trinkgläser sind das ganze Mobiliar. Das Ensemble, wenn es nicht auf der Szene ist oder gänzlich aus dem Spiel verschwunden ist, steht sichtbar hinter dem Gerüst und beobachtet konzentriert das Geschehen. Weil die Bilder von Beiv imaginär im Zuschauerraum verortet werden, entwickelt die Regie ein frontales Spiel: Die Darsteller starren ständig ins Publikum. Damit wird überdeutlich gemacht, dass die Figuren auf der Bühne ständig aneinander vorbeireden. Dazu entwickelt insbesondere David Müller als Colm eine Lautstärke, deren Aggressionspotential hoch ist, wie auch Anne-Marie Lux die Unsicherheit ihrer Figur Bonnie zunächst mehr herausschreit als spielt. Darüber hinaus schmeißen sich Colm und sein alter strohblonder Freund Donal (Elias Krischke), der seit seinen Jugendtagen in Colm verliebt ist, ins Wasser, wenn sie in die Enge getrieben nicht mehr weiter wissen. Erst zum Schluss hin, wenn Beiv ihre Geschichte erzählt, gelingen der Inszenierung leise und genaue Töne. Während die junge Generation sich schreiend an ihren Problemen abarbeitet oder sensationsgeil wie Ray (Peer Oscar Musinowski) Podcasts über die Künstlerin zu produzieren versuchen, kann Christiane Roßbach als Beiv zuhören und das aufgeregte Geschehen aus der Distanz kommentieren. Sie ist der ruhende Pol in der Aufführung. In ihrer unaufgeregten Spielweise wird deutlich, wie selbstbewusst, wie lebenserfahren ihre Figur ist. Roßbach spielt, während um sie herum zumeist nur ein hysterisches Aufsagetheater stattfindet.
Benommen verlasse ich das Kammertheater, dessen Zuschauerraum sich für mich doch relativ leer anfühlte, um auf dem Weg zum Schauspiel des Staatstheaters den Kopf für die nächste Premiere freizubekommen. Die Sonne scheint immer noch. Den Impfpass und Personalausweis für die Kontrolle am Eingang sind bereit gehalten, Kontrollzettel für das Gesundheitsamt, den schon die Pressereferentin ausgefüllt hat, dem Einlasspersonal überreicht, Karte und Programmheft erhalten, zur Erfrischung eine Weinschorle rot sauer. Dann beginnt auch die Uraufführung der „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“ von Roland Schimmelpfennig in einem Zuschauerraum, der sich „voll“ anfühlt. Meine Kritik dazu finden Sie hier.
Als ich am Ende der Vorstellung das Schauspiel verlasse, ist es stockdunkel, Blitze leuchten am Himmel und als ich den zerstörten Stuttgarter Hauptbahnhof erreiche und auf den verspäteten ICE warte, beginnt der Sturzregen. Fazit eines merkwürdigen Tages: So viele Geschichten von Sehnsucht nach Liebe, so viel Kälte, so viel Hysterie, aber was erzählen sie? Da lobe ich mir die abstrakte Verdichtung von „Dreier ohne Kopf“, da wird etwas darüber berichtet, wie Gesellschaft funktioniert und wie man diese Mechanismen unterlaufen kann. Und das mit großer spielerischer Leichtigkeit. Fazit: Das Theater für ein junges Publikum ist immer noch ein unterschätztes Theater.