Mario Nötzel

Der Bühnenzauberer

Er klingelt die Zuschauer auf ihre Plätze, organisiert das musikalisch genaue Öffnen und Schließen von Türen und hilft manchmal auch auf der Bühne aus. Ein Besuch beim Ex-Tänzer Mario Nötzel, der als Inspizient an der Komischen Oper Berlin die Fäden in der Hand hält.

„Einen guten Abend! Es ist jetzt 19:00 Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Beginn unserer Vorstellung.“ – Diese und weitere Ansagen des Inspizienten kennen alle im Theater. Dass es aber auch der Inspizient ist, der das Publikum durch sein mehrmaliges Klingeln in den Saal bittet, der durch dieses Klingeln auch die Garderobendienste an Pausen und Stückende erinnert, wissen wohl die wenigsten. Und das sind nur seine offenkundigsten Handlungen. 

Dass Mario Nötzel einmal dieser Tätigkeit nachgehen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Und doch scheint es folgerichtig. Er stammt aus einer Familie im Sächsischen, die mit dem Theater nicht vertraut ist, aber die Ordnung liebt. Schon als Achtjähriger wird er in seiner Klasse Brigadeleiter und „führt die Heimat- und Informationsmappe vorbildlich“. Von den 16 Zensuren sind 12 Einsen. „Ordnung“ gehört selbstredend dazu. Aber er will noch mehr. Der jugendliche Wunsch, einer ersten Liebe für immer nahe zu sein, lockt ihn in die Leipziger Ballettschule. Auf die Frage der Eltern, ob er das denn wirklich wolle, sagt er heute: „Das wusste ich natürlich selber nicht, aber der Gedanke trug so eine verrückte Hoffnung auf etwas anderes, etwas Neues in sich. Ich sehe immer noch den Moment vor mir, wie ich zitternd den Briefumschlag der Fachschule für Tanz aus dem Briefkasten nahm, ihn sofort öffnete und laut jubelnd zur Haustür tanzte.“ 

Teamwork

Während der Tanzausbildung stellt er fest, dass er sich lieber und erfolgreich für andere oder eine gemeinsame Sache als für sich selbst einsetzt und ein wirklicher Teamplayer ist. Rückblickend beschreibt er sein Tänzerleben als „eine einzige Euphorie“. Insgesamt war er 18 Jahre als Tänzer tätig – beim Erich-Weinert-Ensemble in Berlin und an der Komischen Oper – bis er im Jahr 2001 völlig unverhofft das Angebot bekam, als Inspizient weiter am Haus bleiben zu können. Vielleicht spielte hierbei auch eine Rolle, dass seine Tanzkollegin Sabine Franz schon zuvor diesen Weg zur Inspizienz beschritten hatte. 

Mario Nötzel

Mario Nötzel © Annette Hauschild/Ostkreuz

Und spätestens hier steht die Frage im Raum, warum denn so bemerkenswert viele ehemalige Tänzer:innen in Theatern Inspizient:innen geworden sind. Was ist ähnlich an beiden Tätigkeiten, oder anders gefragt: Welche Kompetenzen, die man für diese Tätigkeit braucht, bringen Tänzerinnen und Tänzer aus ihrer Berufserfahrung mit? Mario Nötzel meint, es sind „die Akribie, die Hingabe, der Wunsch, eine Sache erfolgreich zu Ende zu bringen und nicht eher aufzugeben, bis es funktioniert“. Wa-rum er dann auch dabeigeblieben ist, begründet er so: „Ich glaube, dass wir speziell mit unserem Team das Bild des Inspizienten im Haus verändert haben. Hier haben wir eine unverzichtbare Steuerfunktion, aber mitmachen müssen schon alle.“ Und der ehemalige Tänzer klingt unverkennbar durch, wenn er ausführt: „Jeder bringt sich maximal ein, und so entsteht immer wieder Wunderbares. Teamwork eben! Ich liebe es, mich von Menschen mit Ideen in einen Sog ziehen zu lassen und daran mitzuwirken, dass im besten Fall etwas Fantastisches entsteht. Das klappt natürlich nicht immer. Manchmal macht es im Team einen Riesenspaß, aber das Stück gelingt nicht. Andersherum geht es aber auch.“ 

Von seinem „Inspizienz-Lehrmeister“ klingt ihm noch heute der Satz in den Ohren: „Mario, als Inspizient sind Sie erst angekommen, wenn niemand am Haus Sie mehr leiden kann!“ Doch Berufsbilder ändern sich – auch im Theater. Mario Nötzel verweist auch gern auf die traditionellen Abläufe in der Komischen Oper: „Die Vorhänge werden von Technikern von Hand an einem dicken Seil gezogen, im Schnürboden gibt es mehr Hand- als Maschinenzüge.“ Diese haben den Vorteil, dass viele Vorgänge vom Team ganz genau getimt werden können, indem mit den Technikern über Funk gemeinsam die Takte gezählt werden und man so mit dem Dirigenten ganz genau synchron sein könne. Auch hier spricht der innerlich musikalisch mittanzende Mario Nötzel. 

Unsichtbares Mitagieren

Einige Beteiligte können bei einer Vorstellung relativ einfach durch andere ersetzt werden, andere – wie Hauptdarsteller:innen oder Dirigent:innen – schwieriger. Doch wie ist es mit dem Inspizienten? Ist er nicht aufgrund seines während der Proben erlangten Wissens um die Inszenierung und die Abläufe auf, hinter und neben der Bühne – im ganzen Haus eigentlich – unersetzbar? Ja und nein: „Wir müssen unsere Klavierauszüge so führen, dass im Notfall auch eine Kollegin oder ein Kollege eine Vorstellung ‚fahren‘ kann“, erläutert Mario Nötzel, räumt jedoch ein: „Aber zu den vielen aufgeschriebenen Dingen kommen immer auch welche, die man wegen des Umfangs nicht aufschreiben oder, wenn aufgeschrieben, im Ablauf einer Vorstellung nicht lesen kann. Es ist immer viel Wissen dabei.“ Und dann kommen da noch die ungewöhnlichen „Sonderrollen“ dazu, denn Inspizient zu sein heißt in der Komischen Oper immer auch, auf Unvorhergesehenes gefasst zu sein. 

So wurde Mario Nötzel aus ganz unterschiedlichen Gründen während seines Inspizientendaseins auch auf der Bühne eingesetzt. So etwa, um in Andreas Homokis Inszenierung der „Meistersinger“ das komplizierte Geschehen auf der Bühne – im Kostüm natürlich – eben dort zu organisieren. Und in Calixto Bieitos berühmt-berüchtigter Inszenierung „Die Entführung aus dem Serail“ hat es sich während der Proben ergeben, dass er sich kurz vor Vorstellungsende als Zufallsopfer ermorden lässt. Dass er deshalb für diese Vorstellungen auch am Pult im Kostüm agierte, ist klar. Selbstverständlich fuhr er im Anschluss an seine Ermordung jede Vorstellung vom Pult aus auch noch zu Ende. Allerdings sprach er seine Schlussansage dann blutverschmiert. 

Mario Nötzel

Mario Nötzel © Annette Hauschild/Ostkreuz

Und neben den vielen Kommandos und Einrufen gehören zu seinen Aufgaben während der Vorstellung Dinge wie das Abfeuern von Schüssen, das musikalisch genaue Öffnen und Schließen von Türen, auch schon einmal das Agieren während einer gesamten Vorstellung auf allen vieren im Unterboden der Bühne und vieles mehr. Es ist ein permanentes, für das Publikum überwiegend unsichtbares Mitagieren.

Wunderbare Wertschätzung

Bei so viel Verantwortung bei einem Theatermenschen stellt sich die Frage nach der Anerkennung dieser – wie auf der Bühne – stets einmaligen Leistung. Die Wertschätzung sei wunderbar und hat sich aus der Sicht von Mario Nötzel auch deutlich verändert: „Als ich mit der Arbeit als Inspizient begann, war es bei uns nicht üblich, dass auf der Premierenfeier auch die Inspizienten genannt und gefeiert werden. Bei dem, was wir gerade in den Endprobenphasen bis hin zur Premiere leisten, unvorstellbar! Das hat sich mit Barrie Kosky als Intendant und Regisseur geändert. Und es gibt wirklich viele Mitwirkende, die sich nach einer Vorstellung persönlich bei uns bedanken. Das tut gut!“ Auch von der Regie werde oft Druck ausgeübt: „Dass es da manchmal kracht, weil es nicht schnell genug geht, ist verständlich; nicht schön, aber es gehört dazu. Die Öffentlichkeit? Weiß meist gar nicht, dass es uns gibt.“ 

Vielleicht sollte der Inspizient seine Abschluss-Ansage „Es ist 22:36 Uhr, unsere Vorstellung ist beendet. Vielen Dank! Ich wünsche allen einen guten Heimweg und eine noch bessere Nacht!“ nach den aktuellen Vorstellungen von Kirill Serebrennikovs „Così fan tutte“ vor Publikum auf offener Bühne machen dürfen? Wenigstens einmal. Zur Premiere? An der Komischen Oper Berlin gab es einst unter Walter Felsenstein die schöne Tradition: einen Premierenvorhang einzig für die Bühnenarbeiter. 

Mario Nötzel, 1964 in Dresden geboren, ist seit 2021 Inspizient an der Komischen Oper Berlin. 1978 bis 1983 absolvierte er die Ausbildung zum Bühnentänzer an der Fachschule für Tanz Leipzig. 1983 bis 1987 lief erstes Engagement beim Erich-Weinert-Ensemble. 1987 bis 2001 war er Solotänzer an der Komischen Oper Berlin.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Ausgabe 06/2023.