Demokratische Bekenntnisse beim Kunstfest Weimar
Foto: Ute Lemper in „Die Zeitreisende” © Guido Harari Text:Roland H. Dippel, am 6. September 2024
Das Kunstfest Weimar gilt als größtes spartenübergreifendes Avantgarde-Festival in den neuen Bundesländern. In diesem Jahr fanden gleichzeitig Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen statt, so dass Leiter Rolf C. Hemke umso mehr politische Bezüge ins Programm hob. Bericht über ein Festival mit internationaler Strahlkraft und zwei Tanz-Höhepunkten.
„Wofür wir kämpfen“ lautet das Motto des Kunstfestes Weimar 2024, das sich als größtes Avantgarde-Festivals in den neuen Bundesländern präsentiert. Und weil in diesem Jahr Anfang September, also mittendrin, die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen stattfanden, setzte Kunstfest-Leiter Rolf C. Hemke ein pralles Programm mit politischen Bezügen und Bekenntnissen zu demokratischen Werten an. Die großen Themen der Zeit – Krieg, Klimawandel, Kommunikation durch Digitalität und Neue Medien – waren wie in den letzten Kunstfest-Jahren facettenreich präsent.
Bei zahlreichen Anlässen um die Ausstellung „Das andere Russland“ im Bauhaus Museum sprach Irina Scherbakowa, Trägerin des Friedensnobelpreises und „Russlands unbequemes Gewissen“, über die Gefahren der Vereinnahmung von Kultur durch totalitäre Regierungen und populistische Machthaber. In der Rede zum traditionell am Anfang des Kunstfestes stehenden „Gedächtnis-Buchenwald-Konzert“ nannte Norbert Frei die Information von radikalisierten Gruppen das wichtigste Instrument zur Überwindung antidemokratischer Offensiven. Und Schorsch Kamerun leitete am Vorabend der Landtagswahlen eine „konzertante Wahlerinnerung im Galaformat“.
Rolf C. Hemke sieht sich durch den überregional stabilen Zuspruch für das Kunstfest Weimar bestätigt. Ein Großteil der Veranstaltungen bis zum Schlusskonzert von Ute Lemper ist ausverkauft. Der Zuspruch der lokalen Politik, von Fördereinrichtungen und internationalen Medien zeugt von Begeisterung. Nach aktuellem Beurteilungsstand ist die Fortsetzung des Kunstfests 2025 gesichert. Eventuelle Veränderungen wirken sich erst nach den Haushaltsbeschlüssen im Herbst 2024 aus.
„S wie Schädel“ als szenische Reflexion von Navid Kermani
Die Ängste der Zeit, Zweifel und Ungewissheit sprachen aus den Kunstfest-Beiträgen aller Sparten. Zum Beispiel aus der Uraufführung „S wie Schädel“: Die „szenische Reflektion einer ungreifbaren Welt auf Texte von Navid Kermani“ gewann durch die Mitwirkung von zwei bedeutenden Schauspiel-Persönlichkeiten an Interesse. Robert Ciulli und Eva Mattes setzten unter Ciullis Regie auf die Synthese von reifer Bewegtheit und resignativen Gesten mit einer Vielzahl von Klagemomenten. Die gegenwärtigen Katastrophen spiegelten sich zwar in den Reden, aber nichts wuchs zu wirklich nachdrücklicher Emotion. Die innere Spannung sackte ab. Mattes und Ciulli spielen eindrücklich, doch für deren raumgreifende wie charismatische Präsenz erweisen sich Kermanis Texte als zu leichtgewichtig.
Pointierten Esprit zeigte dagegen die Irish National Oper bei den drei Zehn-Minuten-Opern des Iren Brian Irvine (geb. 1965): Die deutsche Erstaufführung von „Trilogie der verbrannten Erde“ wurde im Hof der Weimarer Universitätsbibliothek als Video auf eine Mauer projiziert. Irvines Vokalsätze auf Texte John McIlduffs zeigen Biss in kurzen Melodien. Wie in Puccinis „Il trittico“ handelt es sich bei „Trilogie der verbrannten Erde“ um durchkomponierte Miniopern unterschiedlicher Kategorien.
Alle drei Teile zeigen das zerrüttete Verhältnis des Menschen zur Erde: „Won’t bring Back the Snow“ ist ein dialektisches Zwei-Generationen-Stück über Vater Eisbär, der sich nach dem früheren wilden Leben sehnt, und seiner in den technischen Möglichkeiten der Digital Natives schwelgenden Eisbärtochter. „Trickle Down Economics“ bringt einen satirischen Zeitraffer vom ökologischen Niedergang durch Wachstumsmotorik, bis der Kommerz im Schmutzwasser absäuft. „Revival“ ist ein ironiefreies Hoffnungsfinale, bei dem der Hintergrundhimmel gefährlich leuchtet. „Scorched Earth Trilogy“ liefert Botschaften auf knappstem Raum. Die motorische Verspieltheit der Musik und das Videodesign geben der Erde gegen die Klimakatastrophe keine Chance. Das Ende gerinnt zu fast unglaubwürdiger Süßlichkeit, aber Video- und Musiksprache sind gleichermaßen griffig wie nüchtern.
Zwei Tanz-Produktionen als Höhepunkte
Zu den Kunstfest-Höhepunkten gehören zweifellos zwei Tanz-Produktionen: Das Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan brachte „Sounding Light“ im DNT. Das formal, ästhetisch und energetisch meisterhafte Stück zeigt den abstrahierten Tagesablauf eines Ökosystems. Wie Halme stehen die Tänzer:innen, bewegen sich erst filigran, lösen sich voneinander. Mit auf das Minimum reduzierten Expressionen ergeben sich Paarbildungen und Loslösungen. Der Choreograf Cheng Tsung-lung erarbeitete feinste Bewegungs-, Licht- und Klangschattierungen. Akustische Reize erzeugt das Ensemble durch Schnalzen und Klopfen selbst. Alles ist von gleicher Bedeutung oder Nichtigkeit. Jeder Bewegung wohnt ein Zauber inne, verflüchtigt sich in dem weißen Kastenraum und den schlichten Kostümen. Auch wenige gehärtete Bewegungskonturen fließen in ein tänzerisches Kontinuum, das die Zeit außer Kraft zu setzen scheint.
Immer wieder gab es in den letzten Kunstfest-Jahren bezwingende Tanzduo-Stücke von Männern. „What is Danger?“, die „choreografische Begegnung zweier junger Protagonisten der taiwanesischen und deutschen Tanzszene“, reiht sich da ein. Jan Möllmer und Chang Chien-Hao beginnen auf der Studiobühne des DNT mit dem Umkreisen ihrer Daumen, stehen sich eng gegenüber. Die Musikauswahl zu den tänzerischen Erkundungen von Nähe, Distanz und Verletzlichkeit ist poetisch. In zeitversetzten parallelen Bewegungen erkunden Möllmer und Chien-Hao durch Hebungen, Berührungen und fragende, nicht aggressive Schläge die affektive und physische Nähe des Anderen. Aus Vertrautheit erwächst Distanz. Am Ende öffnen die Tänzer das Tor vom Bühnenraum zur Terrasse. Ein Sich-Entlassen oder gemeinsamer Aufbruch? Die dargestellte Nähe davor entstand aus Mühe und Hoffnung ausdrückenden Bewegungen.
Nach Auseinandersetzungen mit Krieg, medialen Herausforderungen und Populismus in vielen Kunstfest-Beiträgen rührt dieses Ausloten von Selbstvergewisserung und humaner Interaktion ganz besonders. „What is Danger?“ ist ein starkes Manifest über den inneren Reichtum durch kleine Affekte.
Weitere Kritiken zum Kunstfest Weimar 2024 finden Sie hier: etwa zu „Ein Ermordeter aus Warschau” und zu „The Weird & The Eerie” in der Regie von Michael v. zur Mühlen.