Das achte MITsp-Festival in Sāo Paulo
Foto: Szenenfoto aus „Antes do tempo existir“ von Andreia Duarte © Silvia Machado Text:Michael Laages, am 13. Juni 2022
Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs
MITsp, die Mostra International do Teatro im brasilianischen Sāo Paulo, hat nach zwei Jahren Pause wieder vor richtigem Publikum stattfinden können. Das Festival ist aber weiterhin stark betroffen vom politischen Kampf um die Kultur – und setzt auf den Regierungswechsel im Spätherbst.
2020 hatte die Pandemie das Festival von einem Abend zum nächsten mittendrin gestoppt – die Bühnen waren schlicht dicht Mitte März. Im Sommer vergangenen Jahres konnten einige wenige Projekte im Internet-Stream das Festival nicht wirklich ersetzen, stützten aber die gerade in Brasilien sehr intensiv entwickelte Wendung hinüber ins Netz. Übrigens scheint jetzt, seit mittlerweile wieder live und vor Publikum gespielt werden kann, unter strengen Hygiene-Auflagen zum Glück und immer mit Maske, auch die Parallelität von realem und virtuellem Theater-Handwerk möglich – ob allerdings die Mostra noch eine reale Absage überlebt hätte?
Die Theater-Macherinnen und -Macher in der brasilianischen Metropole haben ja nicht nur mit dem weiterhin präsenten Virus zu kämpfen, sondern auch mit der chronischen Kultur-Feindschaft des Bolsonaro-Regimes sowie der schwachen eigenen Währung – nur drei internationale Gastspiele konnte Festival-Chef Antonio Araujo finanzieren, darunter eine Arbeit von Julien Gosselin aus Frankreich und „Uncanny Valley“, das auf sehr vielen Festivals weltweit präsente Virtual-Reality-Projekt von und mit Autor Thomas Melle und Stefan Kaegi von „Rimini Protokoll“. Stark ist Brasiliens Theater aber vor allem in der Beschäftigung mit dem eigenen Land – das Finale des Festivals war geprägt von mitreißenden Beschwörungen des vor allem indigenen kulturellen Erbes in Brasilien.
„Antes do tempo existir“, frei übersetzt: „Was vor der Zeit gewesen ist“, heißt etwa die jüngste Arbeit vom Team um die Regisseurin Andreia Duarte, die beim Festival Premiere feiern konnte – hier bekommt die Natur selbst eine Stimme; ähnlich wie in der vielgerühmten Shakespeare- und „Macbeth“-Variation der auch in Europa arbeitenden brasilianischen Regisseurin Christiane Jatahy Ende vorigen Jahres in Zürich. Jatahy hat gerade mit der jüngsten Produktion „Depois do Silencio“ (Nach der Stille) bei den Festwochen in Wien Premiere und bekommt demnächst auch den Goldenen Theater-Löwen in Venedig; bei ihr wurde der tropische Regenwald mit soghafter Bild-Intensität im Finale quasi selbst zum Hauptdarsteller. Bei Andreia Duarte formt das Ensemble diesen Wald ganz ohne Film und mit einfachsten Mitteln, etwa vielen, reichverzweigten Ästen; und mit schlichter Maske erscheint auch der König des Urwalds persönlich, der magisch-mythische „Onca“, der Jaguar; und kann nur lachen über die Ängste der Menschen vor den tief in die Geschichte hinab ragenden eigenen Wurzeln.
Auch Tieta Macau aus dem nord-brasilianischen Bundesstaat Maranhao ist auf diesem Weg – mit „Ances“ gestaltet sie ein an religiös-spirituelle Macumba- und Candomble-Traditionen erinnerndes Ritual, in dem sie die Energien der Vorfahren zu beschwören versucht: mit Gesängen und Tänzen, in die das Publikum möglichst einstimmen soll, mit sehr viel schwarzer Erde, die sie ausstreut und in der sie fast verschwindet, mit Texten, die das Erbe lebendig halten, über die ungezählten Generationen hinweg. Immer wieder (und intensiver als in allen anderen politisch-gesellschaftlichen Diskursen, in die das junge brasilianische Theater extrem eng eingewoben ist) nimmt die aktuelle Szene des Landes die Fäden und Spuren der indigenen, anti-kolonialen Geschichtsschreibung auf und überschreibt mit ihnen die Kämpfe um Energie und Selbstbewusstsein der viel zu oft vergessenen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner, denen das reiche Land ja im Grunde gehört. Tieta Macau forscht übrigens auch mit Unterstützung der deutschen Kulturstätte PACT Zollverein in Essen; gut, dass diese transnationalen und transkulturellen Partnerschaften auch brasilianischen Künstlern und Künstlerinnen wie ihr ein bisschen Sicherheit bieten.
Indigene Geschichte, authentisch und allgegenwärtig – das ist einer der zentralen thematischen Stränge des Festivals in Sao Paulo gewesen. Zu den wichtigsten anderen Themen gehört der Körper; und dabei geht es durchaus nicht nur um Choreographien… Zwar ist der Künstler Fauller aus dem nordöstlichen Bundesstaat Ceara auch Choreograph, aber mit viel Gespür für die Autonomie der Tänzerinnen und Tänzer, mit denen das neue Stück „Fortaleza“ entstanden ist; so heißt die Hauptstadt von Ceara, das Wort bezeichnet aber auch die schlossartigen Bastionen, die historischen Hafenstädten stets vorgelagert waren, zu Schutz und Verteidigung. Das achtköpfige, zunächst noch halbnackte Ensemble verfällt für eine Stunde in einen festen, stampfenden Rhythmus; die Oberteile ziehen alle über die Köpfe, bis nur Sichtschlitze übrig bleiben – wie zum Straßenkampf bereit. Und genau das entsteht: ein rhythmischer Kampf, nicht jeder und jede gegen jede und jeden, sondern immer alle mit allen verschränkt. So sehr sie rasen, brüllen und rennen, stürzen und sich wieder aufrappeln, so sehr werden sie zum kollektiven Körper. Anstrengend ist das auch für’s Publikum – aber mitreißend und rätselhaft.
Das gilt auch für „A Historia do Olho“, nach Georges Batailles ‚Geschichte des Auges‘, dem knapp hundert Jahre alten Schocker, von Janaina Leite inszeniert, einer der wichtigsten Regisseurinnen zurzeit. Während der Pandemie hatte sie die unbegrenzten Möglichkeiten zeitgenössischer Sexualität in möglichst allen Variationen erkundet, in spektakulären Zoom-Konferenzen; sie hatte auch selbst als virtuelle Sex-Arbeiterin auf Netz-Plattformen Erfahrungen gesammelt. Jetzt geht sie formal einen Schritt zurück zur Literatur und sammelt mit einem sexuell extrem diversen Ensemble, sozusagen mit Fachkräften unterschiedlichster Sexualität, die Geschichten, mit denen sich 1928 auch Bataille heran tastete an die psycho-sexuellen Abgründe und Himmelstürme entfesselter Sexualität. Was das Ensemble aus Sao Paulo da anstellt, um Sex zu zeigen und dennoch ja immer im Theater zu bleiben, ist sensationell, extrem herausfordernd und teilweise unfassbar – eine Frau etwa hängt wie ein Stück Fleisch an Haken unter der Decke, wenn Bataille vom Stierkampf erzählt.
Parallel zum Festival übrigens zeigte im Teatro Oficina Brasiliens Regie-Legende Zé Celso „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett – wann wohl Becketts Klassiker jemals derart frech, entspannt und heiter daher gekommen sein mag… Ein Ereignis in einem der schönsten Theater der Welt! Aufregender (und Highlight im Festival) war nur „Tragedia e perspetiva I – o Prazer de nao estar em acordo“ von Lisandro Rodriguez aus Buenos Aires und dem lokalen Top-Dramatiker Alexandre dal Farra. Von der „Lust, nicht einverstanden zu sein“, niemals und mit nichts, vor allem nicht miteinander und mit sich selbst, erzählen hier sechs Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Den zweiten Teil dieser „Tragödien und Perspektiven“ werden dann nur Frauen spielen – hoffentlich finden auch die intellektuellen Schärfen des brillanten, klugen Textes eine Fortsetzung. Wer holt dieses Meisterstück voller intelligent vermessener Abgründe nach Europa? Und wer übersetzt es?
Beides würde lohnen.