Charlies Welt
Foto: Charlie Casanova beim Live Painting © Steffen Wollmann Text:Michael Laages, am 1. Oktober 2022
Charlie Casanova zählt zu den originellsten Figuren der Theaterszene. Die Live-Painting-Künstlerin hält illustrativ fest, was sie auf der Bühne sieht. Seit vier Jahren begleitet sie die Arbeiten des Regisseurs Herbert Fritsch.
Der Wasserfall rauscht, die Quelle sprudelt; und kein Ende ist in Sicht – wenn Charlie Casanova mal richtig loslegt, wenn sie Lust hat zu reden und zu erzählen, dann richtig. Dann quillt sie schier über, schmeißt nur so um sich mit „Gier und Liebe“ – das sind zentrale Begriffe jener Auffassung von Leben und Kunst, die die junge Frau aus Heidelberg am liebsten mit der ganzen Welt teilen würde. Die angeblich so „sozialen“ Medien allerdings, die diesen Job mit übernehmen, kann sie gar nicht leiden. Ganz ohne geht es auch bei ihr nicht, trotzdem entdeckt sie bei ihnen einen kontinuierlichen Kulturverfall: Jetzt, wo die Digitalität alle Bereiche von Leben und Bewusstsein erobert habe, müsse dringend wieder analoge Wahrheit und Wahrhaftigkeit her. Erstaunlich für eine „digital native“ wie Charlie Casanova – denn konservativer geht’s eigentlich nicht. Aber sie ist halt ein in jeder Hinsicht sehr überraschender Mensch.
Flucht nach England
Im Sommer erst hat sie den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu einem erstaunlichen optischen Outfit verholfen: mit der Präsentation vielformatiger Zeichnungen, die nur so wimmeln von Texten und Zeichen und so etwas sind wie das Markenzeichen der Künstlerin. Sie ist jung, erst Mitte 20, der Vater ist Rechtsanwalt (und „Bauchmensch“, wie die Tochter selber), die Mutter stammt aus Taiwan und lebt deutlich stärker durch den Kopf. Als Kind hat Charlie das allererste Schuljahr in Shanghai verbracht. Eine kleine Dosis Basis-Mandarin (meinte Mutter) sollte das Kind in jedem Fall mitnehmen auf den Lebensweg. Der selbstgewählte Sehnsuchtsort ist dann aber London geworden – mit 13 fährt sie zum ersten Mal allein hin. Dem englischen Humor ist sie seit damals verfallen, und den Musicals, wie sie in London (und in Deutschland fast nie) erarbeitet werden: „Die Leute glauben da noch an die andere Welt, an den Zauber auf der Bühne.“ Das ist noch so ein zentraler Begriff in Charlies Welt: Zauber. Wo immer sie den findet, feiert sie ihn enthusiastisch, „unersättlich“, wie sie sagt. Auch das zeichnet die Künstlerin aus – ein Enthusiasmus, mit dem die berühmten Berge versetzt werden könnten.
Charlie Casanova Porträt-Shooting für das Oktober-Heft 2022. Foto: Tobias Kruse/Ostkreuz
Furor und Krisen
Diese enorme, unstillbare Energie und Sehnsucht hat natürlich auch eine fundamentale Schattenseite – finden sich keine lohnenden Ziele für diesen Furor der Wünsche, wird’s zappenduster. Dann verlässt sie die Wohnung nicht mehr. Immer wieder gab es den Moment, als die Umwelt sie zwang, sich selbst und die eigene Rolle zu bewerten: „Dann habe ich immer nur über mich selber nachgedacht, das hat mich zerstört – ich konnte jahrelang weder lachen noch weinen.“ Jetzt schon, und nicht zu knapp: „Es ist gut und hilfreich, den Vorhang zuziehen zu können vor der Welt. Und wer anfängt, sich für besser zu halten als andere, ist ohnehin irgendwann im Leben falsch abgebogen.“
Krisen gab’s reichlich – etwa, als es für die junge Charlie nicht mehr weiterging mit der ersten großen Passion, dem Klavier. Mit der Zeit waren ihr nur noch „die richtigen Noten“ eingebimst worden, aber sie war schon ganz woanders – und nichts blieb übrig vom Wunsch nach Grenzüberschreitung, etwa zum Jazz hinüber. Als Schülerin wurde sie immer deutlicher zur Fremden gestempelt: „Man versucht sich krampfhaft einzugliedern, ein Teil einer Gruppe zu sein, die man nicht versteht. Immer fehl am Platz, und dazu noch der Hass von außen… in schwierigen Zeiten habe ich mich verkrochen: in ‚Die Dreigroschenoper‘ oder ‚Die sieben Todsünden‘. Das hat mir immer Trost geschenkt.“
Konsequenterweise ist sie geflüchtet, hat alle Abschlüsse schließlich auf Englisch gemacht, in einem College nahe Birmingham. Die beste Note gab’s im Fach Musik. Auch in England war natürlich vieles schwierig – „aber ich kann mich verbeißen in eine klitzekleine Sache, wenn da nur ein Zauber ist.“ Da ist er wieder, der Zauber. Die Schule hatte zum Glück ein kleines Theater: „Als ich einmal sehr frustriert war, habe ich den Theater-Vorraum über mehrere Wochen in ein Zeichenatelier umfunktioniert. Das ging eine Weile gut, dann wurde ich sehr freundlich rausgeschmissen.“ Von England aus wechselt sie nach Berlin – und dockt an bei einer Schule, die als Design-Akademie Unterricht in Film und „motion design“ anbietet. Auch dort aber wird sie nicht glücklich, weil das Lernen hier im Grunde immer in der Werbe-Branche endet. Aber: „Jeder Nullpunkt birgt auch Chancen“ – das Gefühl der Ausweglosigkeit treibt Charlie ins Theater. Und jetzt geht’s los.
Das Rasen im Kopf
Der Genuss von früher kommt wieder. Aber wie sieht sich Charlie Casanova selber in diesem Moment der Erweckung, als sie das Theater und das Theater sie gefunden hat? Sehr streng und immer noch sehr absturzbewusst: „Nackt, kahlrasiert, vertrocknet, eingegangen – aber immer noch nicht tot“. Und sie fügt hinzu: Ja, „Theater war meine Therapie.“
Mit der Zeit bekommt sie nun auch das „Rasen im Kopf“ unter Kontrolle: „Alles, was ich mache, mache ich manisch“ – jetzt geht Charlie Casanova halt manisch ins Theater. Ein Notizblock wird (wie auch früher schon) zum Dauerbegleiter. Die junge Frau notiert Dinge, die sie sieht; schreibt kleine Texte darüber, beginnt zu zeichnen. Ist das schon ein Beruf? Natürlich noch nicht – aber sie kommt dem Zauber-Ort näher, der das Theater ist. Brennt sie vielleicht wieder, womöglich gar wie eine Kerze mit zwei Dochten? Das kann durchaus sein. Denn die Sensationen häufen sich – zunächst im Maxim-Gorki-Theater. Christian Weise hat dort „Alles Schwindel!“ für die Gegenwart aufgehübscht, eine Berliner Revue aus der Zeit vor fast hundert Jahren; Charlie Casanova sitzt in der ersten Reihe, immer wieder. Alles Geld, das sie hat, gibt sie fürs Theater aus – und jetzt schreibt sie nicht nur Notizen und fertigt schnelle kleine Zeichnungen während der Vorstellungen, jetzt hat sie gelegentlich auch Papptafeln dabei, die sie in den Schlussbeifall hält: „NOCHMAL“ steht drauf, zum Beispiel. Viele mögen Charlie Casanova, diese sonderbare Frau ein bisschen jenseits der Norm, für eine Theater-Verrückte halten – im besten Sinne ist sie das ja auch.
Richtig Anschluss am Theater findet sie aber in der Gorki-Gemeinde noch nicht; dazu muss sie weiterziehen, zum Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Ganz viel „Dreigroschenoper“ und „Panikherz“ sowie vieles andere sieht sie dort mehrfach, entdeckt auch die feinen Arbeiten von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht (die sie später in Hamburg wieder trifft): „Vor allem ‚Ballroom Schmitz‘ – da hab‘ ich zum ersten Mal wieder aus der Seele raus gelacht.“ Und mutig ist sie jetzt endlich auch – spricht etwa Intendant Oliver Reese auf dem Hof vom BE an, zeigt ihm ihre Zeichnungen und wird prompt zu einer Regie-Hospitanz eingeladen.
Versöhnung durch Fritsch
Die Arbeit am Notizblock beginnt nun wirklich zur Profession zu werden. Daran ist letztlich vor allem der Regisseur Herbert Fritsch schuld – „ein ewiges Kind, genau wie ich“, meint Charlie Casanova. Nachdem sie sich für den Augenblick satt gesehen hat an den Gorki- und BE-Produkten, entdeckt sie nach den Theaterferien – „der schlimmsten Zeit des Jahres“ – an der Schaubühne „Champignol wider Willen“, die Farce nach Georges Feydeau, die Spaß-Spezialist Fritsch im Herbst vor ziemlich genau vier Jahren inszeniert hatte. Sie sieht den Ulk und sagt: „Das ist es! So hab’ ich mich immer gefühlt, konnte es aber nie zeigen – das war wie eine Versöhnung mit mir selber.“
Wie sagt Charlie Casanova? „Ich lerne am besten, wenn ich nicht muss“ – jetzt aber will sie. Es entstehen Zeichnungen für Fritsch-Arbeiten, überall hin reist sie dem Regisseur hinterher, sieht alte Arbeiten von ihm, die etwa das Bochumer Schauspielhaus von der alten Volksbühne gekauft hatte – und für das Programmheft zur Fritsch-Arbeit „Amphitryon“ an der Schaubühne liefert sie im Herbst 2019 die erste komplette Illustration. Kein Text, nur sie – Bilder und Strukturen wild durcheinander, mit fettem schwarzem Stift und ein paar Worten mittendrin. Als Fritsch im April dieses Jahres am Deutschen Schauspielhaus Hamburg „Die Jagdgesellschaft“ von Thomas Bernhard inszeniert, ist auch Charlie Casanova mit am Start; wieder liefert sie ein komplettes Programmheft, diesmal in ganz anderem Stil, viel feiner, höchst aufwändig und mit vielen Tieren drin; sie illustriert die Bühnen-Elemente, begleitet die Proben am Schauspielhaus mit der Video-Kamera und spielt letztlich auch selber mit. Sie sieht aus wie eine Prinzessin aus der vorderasiatischen Wüste. Sehr ulkig.
„Form follows feeling“
Mitte September war sie nun, als künstlerische Assistentin, mitverantwortlich für die Bilder-Welten in George Bizets „Carmen“ an der Staatsoper in Hamburg; natürlich wieder mit Fritsch. Er war der erste, sagt sie, der sich „wirklich und ernsthaft angeschaut und verstanden hat, was ich mache“, mit ihm gilt für Charlie Casanova: „Theater ist Heilung.“ Grübeln und Theoretisieren eher nicht. Nicht jeder mag, was sie macht und wie sie ist, das weiß sie, das erfährt sie oft. Sie fühlt sich dabei wie jemand aus längst vergangenen Zeiten und ziemlich sentimental, sammelt etwa Erinnerungsschnipsel. Früher habe sie Perfektion angestrebt, jetzt bevorzuge sie „passiv-unbewusste Prozesse“ in der Arbeit. Über allem steht aber immer das Gefühl, und das alte Bauhaus-Motto variiert sie so: „Form follows Feeling“. Oft sehen die Zeichnungen aus wie Wimmelbilder in einer Keith-Haring-Tradition, und die Schrift darin ist fast so klein wie bei Robert Walser. „Ich lebe für das Ausprobieren“, mittlerweile auch beim Filmemachen oder in der Ölmalerei. Sie verehrt Christoph Schlingensief: „Am liebsten würde ich irgendwann alle Ausdrucksformen miteinander verbinden“, sagt Charlie Casanova. Aber: „Ich nehme mir nichts vor, will nicht so viel nachdenken – lieber machen, machen, machen.“ Und: „Überall, wo aus Liebe zur Kunst gearbeitet wird, fühle ich mich zu Hause.“
„Manchmal will man nicht erkannt werden, und manchmal will man, dass jeder weiß, wer man ist.“ Hilft dabei der Name: Casanova? „Der ist so schön fremd und missverständlich. Ich bin keine Witzfigur. Und wenn niemand mehr nachfragt, was ‚Casanova‘ bedeutet, hab’ ich’s geschafft.“