Buch: Nelson Rodrigues: „Kuss im Rinnstein“
Foto: Nelson Rodrigues: „Kuss im Rinnstein“, Alexander Verlag Berlin © Alexander Verlag Berlin Text:Andreas Falentin, am 22. September 2022
Gerade, wenn ein Buch viele Seiten hat, drückt man sich als Leser gerne um das Vorwort. Oft glaubt man schlicht, schon genug zu wissen. Über Nelson Rodrigues, den Autor der in „Kuss im Rinnstein“ zur Anthologie geschnürten Prosa- und Theaterstücke, wissen hierzulande nicht sehr viele Menschen überhaupt etwas. Das Buch ist dennoch für jeden Theaterinteressierten spannend. Allerdings sollte sie oder er das Vorwort lesen!
Gnadenlose Zustandsbeschreibungen
Denn hier porträtieren die Herausgeber:innen Marina Spinu und Henry Thorau auf 35 Seiten nicht nur einen Künstler, den sie an Bedeutung für die Entwicklung der brasilianischen Kultur im 20. Jahrhundert dem Architekten Oscar Niemeyer und dem Komponisten Heitor Villa-Lobos an die Seite stellen. Man erfährt auch viel über das Land selbst, über eine gewaltig klaffende soziale und wirtschaftliche Schere; über Lebensumstände, die sich von einer Sekunde auf die andere ändern; und natürlich hauptsächlich von der Biographie des Nelson Rodrigues. Wie er sozusagen den Expressionismus für die südamerikanische Dramatik noch einmal neu erfunden hat. Wie er in der Theaterpraxis, etwa in der Beleuchtung, Standards erkämpfte, die in Europa längst normal, aber in Brasilien fast eine Theaterrevolution waren. Und wie er ganz eigene Formen fand, um auf der Bühne mit der ihm eigenen (und für ihn notwendigen) Gnadenlosigkeit Zustände beschreiben und verdichten, Geschichten erzählen, überhöhen und dekonstruieren zu können. Und wie das Dramaturgen in Ost und West derart gefangen nahm, dass man gegen jede politische Praxis der Zeit gemeinsam daran arbeitete, Rodrigues zu übersetzen.
Es folgen kurze Prosatexte, in denen die Präzision der Beschreibung und die Anschaulichkeit gefangen nehmen. Wie gut kann man sich dieses ganz Andere vorstellen! Hier, wie in den sechs abgedruckten, vom ästhetischen und dramaturgischen Ansatz her höchst unterschiedlichen, Stücken frappiert, wie Rodrigues immer wieder mit wesentlichen Strömungen des europäischen Theaters jongliert – Naturalismus, Expressionismus, Surrealismus, absurdes Theater –, die er alle als Leser und Zuschauer kaum erlebt hatte. Dabei entsteht eine sehr eigene Welt, die von einer uns sehr fremden Atmosphäre dominiert wird. Es geht um räumliche Enge und um soziale Kälte als Brutstätte für Bosheit und Verbrechen, in den früheren Stücken wild, fast formlos aufschreiend, gespickt mit Mord, Vergewaltigung und sexuellen Exzessen, in den späteren gefasst in eine Vorstadt-Atmosphäre, die Fundament und Distanz schafft und jene von Rodrigues für sein Heimatland konstatierten toxischen Gesellschaftsstrukturen geistig und sinnlich erlebbar macht. Und immer wieder gibt es Momente der Empathie, wie der die Anthologie und ein abgedrucktes Theaterstück betitelnde „Kuss im Rinnstein“. Hier beugt sich ein Mann zu einem Sterbenden hinunter und küsst ihn auf den Mund.
Wild, aufrüttelnd, unterhaltsam
Diese Szene aus der Inszenierung von Siegfried Bühr 1988 am Kölner Schauspielhaus ziert das Cover des Buches. Gleichfalls in Köln inszenierte Frank Hoffmann im folgenden Jahr „Der Mann mit dem Goldenen Gebiss“ über einen Kleinkriminellen, der sich seine gesunden Zähne herausnehmen lässt, um auf ungewöhnliche Weise seinen Reichtum herumzuzeigen. Diese Aufführung habe ich damals gesehen, die aufreißenden sozialen und allgemeinmenschlichen Abgründe und der sardonische Witz bleiben mir unvergesslich. Die Direktheit der Spielvorlage überwindet jede Zeitgebundenheit und die individuelle und gedankenklare Sprachverwendung sprechen für sich. Diesen Eindruck habe ich bei der lesenden Wiederbegegnung nach 30 Jahren bestätigt gefunden.
Leider hat die Kölner Initiative unter dem jüngst verstorbenen Intendanten Klaus Pierwoß damals nur zu vereinzelten Aufführungen anderswo, nicht zu einer Rodrigues-Welle geführt. Natürlich ist Nelson Rodrigues kein einfacher Autor, aber besonders für Dramaturg:innen könnte er gerade heute relevant sein. Denn die von ihm so vielfältig (und immer brennend) eingefangene falsche, zum Zusammenbruch verurteilte Bauform einer Gesellschaft, die alles bis in die Familien und zum einzelnen Menschen vergiftet oder unmöglich macht, nehmen viele Menschen heute auch hierzulande wahr. Und Wut, Witz und Empathie sind gute Vermittler, können Bewusstsein schaffen, gleichzeitig aufrütteln und unterhalten. Lesen Sie diese Texte! Sie werden es nicht bereuen! Und zuerst das Vorwort!!
Nelson Rodrigues: „Der Kuss im Rinnstein“, herausgegeben von Henry Thorau und Marina Spinu, 534 Seiten, ist am 9. August im Alexander Verlag Berlin unter der ISBN 978-3-89581-580-5 erschienen.
Das Buch kann zum Preis von 28 € HIER oder im Buch- und Versandhandel bestellt werden, eine Leseprobe gibt es HIER.