Buch: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben” von Jürgen Flimm
Foto: Buchcover © Kiepenheuer & Witsch Text:Michael Laages, am 19. Januar 2024
Die Memoiren des Jürgen Flimm sind bei Kiepenheuer & Witsch, erschienen. Ein sehr persönliches Buch über das Leben einer Theaterlegende, die kulturelle Geschichte geschrieben hat.
Jahrelang hatten Theatermacher Jürgen Flimm und Verleger Helge Malchow über die Autobiographie gesprochen, die der eine dem anderen versprochen hatte. Dann nahmen Flimms gesundheitliche Beschwerden zu. Bei der Buch-Premiere in der Berliner Akademie der Künste benutzte Malchow sogar das Wort fragmentarisch. „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“ ist trotz aller Widrigkeiten ein unerhört reiches Buch, verortet an Flimms Heimatorten in Köln, aber auch in Hamburg, München, Mannheim, Salzburg, Zürich, Berlin – und New York.
Die Kapitel folgen diesen Orten nicht immer chronologisch, Heimaten überschneiden sich, Theatermenschen wissen das. Intensiver noch als mit seinen Intendanz-Stationen (sechs Jahre in Köln, fünfzehn am Thalia Theater in Hamburg, schließlich acht an der Staatsoper in Berlin) beschäftigt sich Flimm mit frühen Zeiten: Als er den eigenen Weg zu suchen begann und ihn fand.
Die Musikalisierung des Heranwachsenden
Kinderglück war nicht leicht zu haben für einen Jungen vom Jahrgang 1941 und wie so oft war die lebenskluge Großmutter wichtiger als das Elternhaus, gedanklich noch stark kontaminiert vom Gedankengut des untergehenden Nazi-Staates. Die Vorlieben des Jungen wirken da wie eine Flucht: das Puppentheater, dass der Neunjährige zu Weihnachten erhält, die Konzertbesuche mit der Großmutter. Auch ein Onkel in Mainz, praktizierender Musik-Kritiker, trägt bei zur fundamentalen Musikalisierung des Heranwachsenden. Mit der eigenen Clique lauscht Flimm bald darauf den musikalischen Radikal-Erneuerern der Epoche: von Karl Heinz Stockhausen bis zu Bernd Alois Zimmermann. Dessen Oper über „Die Soldaten“ von Jakob Michael Reinhold Lenz wird zu einer Art Erweckungserlebnis, wie zuvor Bach.
Flimm erzählt von wichtigen ersten Schritten und – nach dem Studium in Köln – von ersten prägenden Begegnungen: mit den Regisseuren Hans Schweikart, der ihn nach München einlädt, und Fritz Kortner.
Das Drama des verlorenen Sohnes
In München trifft (und heiratet) Flimm die drei Jahre ältere Schauspielerin Inge Jansen. Sie brachte schon Kinder mit – und verlor das gemeinsame, als das Flimm-Paar kurzzeitig in Ladenburg bei Mannheim lebte. Flimm war (nach der ersten Leitungsfunktion Anfang der 70er Jahre in Hamburg und am Thalia Theater) Oberspielleiter am Nationaltheater geworden. Die Geschichte von „Benjamin“ steht ganz am Ende vom Buch. Dieses Drama hat weder Jürgen noch Inge Flimm jemals losgelassen. Sie starb bereits 2017.
Privates und Berufliches sind in Jürgen Flimms Erinnerung munter und manchmal frech durchmischt, etwa im Erzählen über Sitten und Gepflogenheiten im kommerziellen Theatersystem der USA, das Flimm als Gast-Regisseur an der Metropolitan Opera in New York kennenlernt. Aber dieser neugierige Theatermensch aus dem „kleinen“ Köln hat die Auswärtsspiele immer genossen – etwa im feineren Zürich beim Opernchef Alexander Pereira.
In seine große Zeit am Thalia Theater in Hamburg fallen nicht nur die epochalen Robert-Wilson-Produktionen von „The Black Rider“ bis zu „Time Rocker“, die alle um die Welt reisen. Hier gibt’s auch die fast in den lokalen Bürgerkrieg führenden Kämpfe um die Hafenstraße. Und von Hamburg aus bricht Flimms Team auf nach China zu einer Workshop- und Inszenierungsarbeit.
Krach mit Lokalpolitikern
Wer Flimm vor allem in Hamburg kennengelernt hat, wird im Lesen ein wenig überrascht: Er selbst sieht sich nie nur als den „großen Umarmer“. Krach mit der lokalen Politik hielt er aus und hat sich den guten Ruf erworben, politisch klug mit Repräsentanten der Macht umgehen zu können.
Flimms Theaterleben ist in vieler Hinsicht beispielhaft für die Aufbrüche in westdeutscher Nachkriegszeit. Darum hätte das Buch mehr Sorgfalt bei der Veröffentlichung verdient gehabt: Es strotzt nur so von Fehlern. Nicht nur, dass Arthur Miller zu Beginn noch „Müller“ heißt; der „Völkische Beobachter“ der Nazi-Partei wird statt zur „Gazette“ sogar zur „Gazelle“. Unfassbar. Hoffentlich folgt die zweite Auflage schnell.
„Mit Herz und Mund und Tat und Leben – Erinnerungen“. Jürgen Flimm. Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-05480-4, 22,00 € , 352 Seiten, erschienen am 11.01.2024.