Cover von "Heilige Schrift I"

Buch: „Heilige Schrift I“ von Wolfram Lotz

Vielleicht wird Wolfram Lotz diesen Text lesen (Hallo Wolfram!). Und vielleicht wird er sich fragen, was das hier soll. Ob es mir gelingen kann, 900 Seiten Textkonvolut zusammenzufassen, ob ich den Versuch, vier Monate Gegenwart umfassend zu beschreiben, am Ende nicht auf simple Thesen zuspitze und all die Banalitäten des Lebens ganz feuilletonistisch mit mehr Bedeutung auflade, als ihnen eigentlich zukommt. Ich will dennoch versuchen, meine Leseerfahrung zu beschreiben.

Wolfram Lotz zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Gegenwartsdramatikern. Seine Stücke wie „Einige Nachrichten an das All“ stehen immer wieder auf den Spielplänen. Mit seiner „Rede zum unmöglichen Theater“ hat er 2009 wunderbar auf den Punkt gebracht, dass die Bühne der perfekte Raum für lebendige Utopien ist.

Im August 2017 zieht er mit seiner Familie in die Vogesen, weil seine Frau dort eine Arbeitsstelle angenommen hat. Weg aus der Großstadt, weg von den Theatern.  Um der Ruhe im Dorf etwas entgegenzusetzen und um sich Gedanken über das eigene Schreiben zu machen, beginnt Lotz, ein Totaltagebuch zu führen: Ein Jahr lang schreibt er jeden Tag mit, wie er ihn erlebt. Nichts darf gelöscht oder bearbeitet werden. Entstanden ist so eine Sammlung voller Alltagsbeobachtungen, Selbstreflexionen und Gedankenfetzen.

Es beginnt tastend. Anfangs habe ich mich gefragt, ob das genug ist, was ich da lese, ob mich das wirklich etwas angeht. Auch Lotz hört nie auf, sein Projekt zu hinterfragen, zu befragen. Er überlegt: Wie privat soll dieser Text bleiben? Mit welcher Sprache lässt sich Alltag erfassen? Wieviel darf hinein und wieviel muss draußen bleiben, damit das Leben nicht vom Schreiben verdrängt wird? Bald hat Lotz Routinen für das Tagebuchschreiben gefunden und es entsteht ein Sog beim Lesen.

Der Titel „Heilige Schrift I“ hat mich irritiert: Die Assoziation zur Bibel liegt nahe – und wirkt anmaßend. An einer Stelle glaube ich die Erklärung gefunden zu haben, als Lotz überlegt, diese Notizen nochmal neu zu sortieren, die Themenfelder in einzelne „Bücher“ zusammenzustellen – ähnlich der Bibel: Er erzählt vom Leben mit seinen beiden Kindern. Er regt sich über Mechaniken im Journalismus auf. Und er berichtet von der Theaterarbeit, die ihn mit ihren klaren Abläufen und starren Strukturen einengt. Dabei doziert Lotz nie, ruft sich immer wieder selbst zurück, macht sich klar, dass eine einzelne Meinung notwendigerweise immer beschränkt ist – sehr angenehm und mir sehr vertraut.

Die Kraft der Schrift

Darin liegt auch die eigentliche Erklärung: Nicht dieses Schriftstück ist heilig für Wolfram Lotz, sondern die Schrift, das Schreiben an sich. Er spricht nicht einfach mit Menschen, sondern er hat dabei gleichzeitig Schrift vor Augen. Theater ist für ihn auch lebendige Schrift. Nicht zuletzt zeigt dieses Tagebuch, dass sich fast das ganze Leben in Schrift bringen lässt – vielmehr zu Schrift werden kann. Dafür hat sich in diesem Tagebuch ein spannender Stil entwickelt. Denn Lotz formuliert nicht aus, legt keine große Erzählung an, verheddert sich in Ideen, die er später zu Ende bringt, bricht Gedanken mitten im Satz ab. Statt einer stringenten Erklärung steht manchmal nur ein einzelnes Wort da. Doch wir kennen das Leben und wissen, was Nacht bedeutet.

Irgendwann liest sich dieses Buch doch wie ein Roman: Ein Künstlerroman über einen Mann in den Vogesen, der mit der eigenen Inspiration kämpft – und zeigt, wie schwer das Schreiben sein kann. Doch der Autor bleibt nicht allein: Seine Kinder holen ihn vom Schreibtisch, mit den Nachbarn geht er containern und nach viel Sehnsucht trifft er Freunde. Lotz selbst wird zum vielfältigen Personal: Als Handke geht er im Wald spazieren, als Durs Grünbein einkaufen und als Miley Cyrus schreibt er an seinem Stück.

In gewisser Weise ermöglicht dieses Buch einen neuen Blick auf Wolfram Lotz‘ Texte, auf sein Schreiben: Er kann echte historische Personen auftreten lassen, weil er sich selbst gerne in andere Menschen verwandelt. Die Unterbrechungen in seinen Stücken sind kein Trick, sondern Teil seines Denkens, das auch von Selbstzweifeln geplagt ist. Und woher die Katze im Theatergedicht „Die Politiker“ kommt, erfahren wir auch.

Das Buch „Heilige Schrift I“  ist keine uneingeschränkte Schmöker-Empfehlung, ist weder kondensierter Essay, noch durchkonstruierte Erzählung. Doch wer sich darauf einlassen möchte, kann erleben, wie sich Alltag in Literatur verwandelt. Und die Liebe zur Schrift ist ansteckend: Beim Lesen hat mich immer wieder die Lust gepackt, gleich selbst so ein Tagebuch zu beginnen, das Leben in Schrift festzuhalten. Übrigens: Die römische Ziffer „I“ im Titel deutet zwar darauf hin, dass noch mehr folgt. Das Totaltagebuch umfasste am Ende auch gut 3000 Seiten – die Wolfram Lotz aber nach dem Jahr gelöscht hat. Zuvor hatte er aber einen Teil an Freunde geschickt – daraus ist nun dieses Buch entstanden. Da dieser Text, der die ersten vier Monate des Tagebuchs umfasst – von August bis Dezember 2017 – auch von den Leerstellen lebt, eigentlich ein ideales Ende…
 

„Heilige Schrift I“ ist am 27. April im S. Fischer Verlag erschienen. Die Publikation umfasst 912 Seiten und ist als Hardcover (34 Euro) sowie als eBook (28,99 Euro) erhältlich. An den Münchner Kammerspielen entwickelt Falk Richter aus den Mitschriften einen Theaterabend. Die Premiere ist für den 14. Mai 2022 angesetzt.