Buch: Ferdinand von Schirach: Regen. Eine Liebeserklärung

In seinem neuen, monologischen Erzählband „Regen. Eine Liebeserklärung“ begibt sich Ferdinand von Schirach auf die Suche nach dem verlorenen Sinn – stilistisch gleichermaßen brillant wie sprunghaft.

Seine Doppelbegabung als Jurist und Literat für Dramatik, Belletristik und Film macht Ferdinand von Schirach zu einem Meister der multiperspektivischen Plots und fast metaphysischer Recherchen. Neben Krimi-Konstrukten interessieren ihn Fragen an das Leben und den ganzen Rest – so auch in diesem neuen Werk „Regen”, eine Erzählung in Form eines szenischen Monologs, die der Autor im Rahmen einer Theater-Lesetour selbst zu sprechen und aufzuführen plant. Seine Fragen stellt er vom oberen Rand jener Komfortzone, in welcher der meinungsbildende Teil der Bevölkerung niveauvolle Statussymbole lanciert und ausstellt. Gleichzeitig ringt Ferdinand von Schirach um eindeutige Wortpräzision. Diese schließen das Wiederfinden von Liebesgefühlen ebenso ein wie snobistische Seitenfüller mit Anmerkungen zum richtigen Eiswasser. Von Schirach perfektioniert eine starke Verknappung und Häufungen von elliptischen Kurzsätzen mit hingeworfenen Signalworten. Auch deshalb gehören seine Texte zu den bevorzugten Lektüren von Deutschlernenden als Beitrag zu ihrer landeskundlichen Bildung.

Gedankenkette mit dünnen Einzelgliedern

Das Titelwort „Regen“ setzt die Stimmung zur Gedankenkette und deren dünnen Einzelgliedern. Schließlich hört der Regen auf und der Erzähler sieht klarer. Schirach knüpft Erinnerungsnetze um eine ermordete Frau im Gerichtsfall, an welcher der Erzähler als Schöffe wegen mutmaßlicher Befangenheit vorerst nicht teilnehmen kann. Gedankenfäden bringen die faszinierende Unbekannte in einem Athener Nobelhotel mit seiner ersten großen Liebe im Kindesalter in Verbindung. Aber dann überwindet der seit 17 Jahren schreibgehemmte Schöffe seine Blockade und findet mit der Liebesfähigkeit auch zur schriftstellerischen Kreativität. Mit der Grenze zwischen Erzählfigur und Autor wird ganz bewusst gespielt. Der Text endet mit aufgeräumter Heiterkeit. Nur von Schirachs Kurven zur Absurdität zeitgemäßer Massenphänomene bleiben Pose.

Die Hälfte des knappen Bandes nimmt das von Sven Michaelsen geführte Interview aus der Süddeutschen Zeitung vom 1. September 2022 ein, hier ungekürzt mit dem neuen Titel: „Ich glaube, dass wir nur ein, höchstens zwei Mal im Leben wirklich lieben können.“ Dieser Epilog zu „Regen“ liest sich wie eine Legitimation des Textes und vor allem von dessen in Relation zum Hardcover-Preis fast unverschämter Kürze.

Poet der Prä-Globalisierung

Schirach beschreibt im Interview, wie ihm im Konzertsaal erklingende Musik entgleitet und er von dieser nur die Farben in Erinnerung behält. Solchen Farben, einem Geschmack und Erinnerungen, die nicht verschwinden, spürt von Schirach in „Regen“ mit schon extrovertierter Sprunghaftigkeit nach. Ist es mit der Liebe so wie mit den Farben aus der Musik? Wieder kreiseln bei von Schirach Bedeutungsfragmente wie Schleifen. Sinnstiftende Verbindungen ergeben sich aus der Reihung, weniger aus signifikanten Erkenntnissen. In der Wüste des Lebens erscheint der kontakt- und berührungsscheue Autor als Poet der Prä-Globalisierung und Prä-Digitalisierung. „Regen“ steht zwischen Essay und Elegie. Ob dieses Hybrid auf den Bühnen und Podien durch Raum, Stimme und Performativität weitere Dimensionen gewinnt, bleibt abzuwarten.

Die Reihe der „exklusiven Premierentournee“ mit dem Autor im Herbst 2023 beginnt am 21. September in Meiningen und mündet nach über 20 Stationen in eine kleine Serie im Berliner Renaissance-Theater.

Nachtrag: Zur Solo-Aufführung des Autors am 20. Oktober in Dessau

Zum Schlussapplaus kommt Ferdinand von Schirach im Anhaltischen Theater Dessau mit brennender Zigarette. Als eine Dame ihm aus der ersten Parkettreihe einen Blumenstrauß empor reicht, beugt sich der Kultautor fast herzlich zu ihr hinunter. Den enthusiastischen Beifall schneidet er mit knappen Worten ab: „Ich hoffe, dass Sie gut nach Hause kommen.“ Das ist doppelsinnig: Denn „Regen“ handelt auch davon, dass alle „nach Hause“ wollen – das steht so bei Novalis – und gar nicht anders können, weil der Mensch fest in seiner Haut und seinem vorbestimmten Genmaterial steckt. Außer man optimiert die Defekte des Menschseins.

Es ist äußerst eindrucksvoll, wie der Autor die ungekürzte Textmenge der 55 „Regen“-Seiten auswendig und ohne Soufflage bewältigt. Schirach setzt eine Marke mit der perfekt modellierten Kunstfigur des depressiven Dandys in der anachronistischen Attitüde eines Großbürgers. Bei längeren Sätzen schwebt Schirachs angenehme, dabei nicht runde Stimme im Gleitflug von mittlerer Höhe nach unten und rollt bis zum Schlusspunkt der Sätze aus. Farbe schafft die mehrfach etwas lehrerhaft gesetzte Frage „Wussten Sie, dass ….“. Natürlich weiß das Publikum längst nicht so viel wie Schirachs Figur in den Sphären von Truman Capote (Besetzung für „Frühstück bei Tiffany“ mit Monroe oder Hepburn) und denen von Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald (funktionstüchtige Penisgröße).

Das Verwischen zwischen Figur und Autor begründet den Reiz dieses Bühnendebüts. Die Gastspielserie macht das Paket der perfekten Selbstinszenierung um die Kunstfigur des depressiven Dandys, der von der Schöffen-Aufgabe und dem „Regen“ flieht, perfekt. Dabei ist in „Regen“ nicht alles blass, distanziert und tragisch. Schirach bleibt ein bescheidener Tragöde der Isolation und Einsamkeit, der sich gern in exklusiven Ambientes bespiegelt und zelebriert. Oder verbirgt Schirach, der im Laufe der 75 Minuten oft an der Rampe auf- und abspaziert, theatrale Naivität mit Flucht nach vorn? Eine Spielleitung oder szenisches Coaching wird nicht erwähnt. Wenn Schirach bissig und witzig wird, macht er auf der Bühne trotzdem keinen Lachschlager daraus. Diese Noblesse hat Format, vor allem in Anthrazit- und Schwarztönen.

 

Ferdinand von Schirach: „Regen. Eine Liebeserklärung“, Luchterhand Literaturverlag, 23. August 2023, 112 Seiten, ISBN: 978-3-630-87738-9