Trotz Hochwassers: Bayerische Theatertage in Ingolstadt
Foto: „Haus ohne Ruhe” vom Stadttheater Ingolstad © Ludwig Olah Text:Manfred Jahnke, am 6. Juni 2024
Die 39. Bayerischen Theatertage finden noch bis Mitte Juni am Stadttheater Ingolstadt statt. Beim größten Theaterfestival Bayerns war unter anderem eine „Orestie“- Überschreibung von Zinnie Harris zu sehen.
Erst Sonne, dann Regen, dann Hochwasser der Donau, jetzt wieder Sonne (aber immer noch Hochwasser). So nervenaufreibend das feuchte Drumherum ist, die Bayerischen Theatertage in Ingolstadt gestalten sich in diesem Jahr in sich spannend und anrührend.
„Orestie“-Überschreibung: „Haus ohne Ruhe“
Das gastgebende Stadttheater Ingolstadt brachte zur Eröffnung als einer der ersten Höhepunkte des Festivals die „Orestie“- Überschreibung von Zinnie Harris „Haus ohne Ruhe“ zur deutschen Erstaufführung. Harris bleibt in ihrer Trilogie nahe an den Abläufen von Aischylos, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Sie erzählt die Geschichte aus einer weiblichen Perspektive bis hin zur Verschärfung, dass nicht Orest, sondern Elektra (emotional intensiv von Sarah Schulze-Tenberge gespielt) zur Muttermörderin wird. Der dritte Teil zeigt sie von Furien gejagt in einer gegenwärtigen Psychiatrie, wo Elektra zugleich das aufgeklärte Weltbild ihrer Psychiaterin zum Einsturz bringt.
In seiner Regie arbeitet Jochen Schölch einerseits mit großen Bildern, andererseits mit präziser Figurenpsychologie. Damit treibt er das Ingolstädter Ensemble zu darstellerischen Höchstleistungen an, die den fünfstündigen Abend keine Sekunde langweilig werden lassen. Teresa Trauth überzeugt als Klytämnestra, Amélie Hug als Kassandra oder Matthias Zajgier als hinterlistiger Aighistos. Sie seien stellvertretend für das gesamte Ensemble genannt.
„Faust01 – Fragmente23“ nach Goethe
Die Bayerischen Theatertage wollen mit einer kuratierten Auswahl die Vielfalt der Szene im Freistaat aufzeigen. Aus ca. 80 Bewerbungen wählte die sechsköpfige Jury 27 Inszenierungen aus, die die ganze Bandbreite von Freier Szene, Privattheater, Landes-, Stadt- und Staatstheater, sowie von Bühnen für ein junges Publikum umfasst. In der ersten Woche – die Bayerischen Theatertage begannen am 29. Mai und gehen noch bis zum 16. Juni – überraschte das „kleine theater Kammerspiele Landshut“ mit „Faust01 – Fragmente23“ nach Goethe in der Regie von Sven Grunert.
Die Inszenierung beginnt mit dem „Vorspiel auf dem Theater“ im Foyer und führt dann das Publikum auf die Bühne des Stadttheaters. Der Raum von Helmut Stürmer betont das Theaterhafte, auf Schminktischen stehen Laptops, die Ecken des Raumes sind verspiegelt. Auf der großen Hinterwand können Livevideos (wie die Verführung des Gretchen durch Faust) projiziert werden. Die Geschichte wird mit sechs Darsteller*innen linear erzählt, klug gekürzt, manche berühmten Szenen wie die bei Auerbach oder der Spaziergang in Marthes Garten sind gestrichen, die Kerkerszene von Gretchen in die Walpurgisnacht hineingearbeitet.
Im Zusammen- und Gegenspiel von Liveacts und Video entsteht eine eindrückliche Inszenierung, die von Andreas Sigrist als gebrochen alternden Faust, von Johannes Meier als jungen, energetisch aufgeladenen Mephisto und von Nicola Trub als um ihre Wirkung bewusstes Gretchen getragen wird.
Theater, Konzerte und Diskussionen
Neben den kuratierten 27 Inszenierungen gibt es weitere ca. 50 Veranstaltungen. Neben Konzerten im eigens aufgestellten Theaterzelt stehen Podiumsdiskussionen zu Themen wie „Die Demokratie verteidigen – wie geht das?“, zu Fragen des Marketings oder „Junges Theater als kultureller Motor der Stadtgesellschaft“ an. Lesungen ergänzen das Programm oder Gastspiele wie aus der polnischen Partnerstadt von Ingolstadt Opole mit „Skizzen von Beckett“, einer furiosen Mischung aus Puppen- und Schauspielertheater.
Zugleich geben die Theatertage jungen Studierenden ein Forum. Die Bayerische Theaterakademie August Everding überzeugte mit dem von Katja Wachter choreografiertem Bewegungsprojekt „Wir im Finale“ von Marc Becker, das schon 2023 Premiere hatte, also nicht aktuell für die Fußball-EM produziert wurde. Ein starkes Ensemble zeigte mit hohem körperlichem Einsatz 90 Minuten lang (eine Halbzeitpause gibt es nicht) ein Spiel mit allen Haken, Fouls und Nickligkeiten.
Student:innen entwickeln ein „Volksstück 2.0“
Für die Theatertage wurde ein Studiengangsprojekt des Masterstudiengangs Dramaturgie der Bayerischen Theaterakademie August Everding in Kooperation mit dem Studiengang „Szenisches Schreiben“ der UdK Berlin installiert. Autor:innen und Dramaturg:innen entwickelten gemeinsam Szenen zum Thema „Volksstück 2.0“. Die Studierenden sollten schreibend erkunden, welche Formen die Dramaturgie, die die Stücke der Ingolstädterin Marieluise Fleißer auszeichnen, heute annehmen könnten. Szenisch wurde dies von Student:innen der Münchener Theaterakademie umgesetzt. In einem Parcours über drei Stationen im großen Theaterfoyer konnten die Resultate besichtigt werden.
Alice Muitoevoll Rugal übersetzt geschickt eine Szene aus „Pioniere in Ingolstadt“ in ein surreales Heute. Sunan Gu und Louisa Sausner beschäftigen sich kritisch mit der Autostadt Ingolstadt heute und Rebecca Raitz setzt sich mit einem Festivalchor mit dem Thema, wie in den Liedern über den Begriff „Volk“ reflektiert wird, auseinander. Der Abend war von einer beeindruckenden Dichte. Solche Projekte sollten verstärkt auf den Theaterfestivals eingebaut werden.
Die Bayerischen Theatertage, die zum Abschluss der Intendanz von Knut Weber (2011 – 2024) am Stadttheater Ingolstadt stattfinden, gehen noch bis zum 16.06.2024. Am Ende wird der Publikumspreis „Marieluise“ verliehen, über den eine 22-köpfige Jury aus Ingolstädter Bürger:innen entscheidet.