Porträtbild von Anthony Hüseyin

Geschlecht dekonstruieren

Anthony Hüseyin ist freie:r Musik- und Performancekünstler:in. Aus dem anatolischen Urfa führte der künstlerische Weg nach Istanbul und Rotterdam. Aktuell steht o auf der Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters in der Rolle Ciwan in Fatma Aydemirs „Dschinns“.

In diesem Porträt wird das türkische genderneutrale Personalpronomen o verwendet, da die porträtierte Person nichtbinär ist.

Dschinns sind Geister, Personen, die aus dem Rahmen fallen. Als Außenstehende beobachten sie und können aus ihrer entrückten Perspektive erzählen. In Fatma Aydemirs Gastarbeiter-Roman sind alle Figuren Dschinns, Erzählende und Handelnde zugleich. Ciwan, Emines verlorenes erstgeborenes Kind, geistert über die Bühne und durch die Köpfe als unklare Instanz, die das Geschehen begleitet, provisorisch in Rollen schlüpft. Am Gorki wird diese mysteriöse Transperson mit kurdischen Wurzeln von Anthony Hüseyin gespielt. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen darstellender Person und der fiktiven Figur Ciwan. Beide sind schillernd und verheißungsvoll, verletzlich, glamourös.  

Als ich Anthony Hüseyin in einem Café am Neuköllner Landwehrkanal gegenübersitze, trägt o rosa Basecap, am linken Nasenflügel einen glitzernden Nasenring und einen Lidstrich in lila und grün. Im Verlauf des Gesprächs kommt die Misogynie vieler Gesellschaften zur Sprache, Femizide an Frauen und Transfrauen in einer Welt, die von Gewalt, Nationalismus und Totalitarismus bedroht ist. Gegen die Realität setzt sich Anthony Hüysein singend und spielend zur Wehr. 

eine Person vor lila-blau beleuchtetem Hintergrund und vor einem Mikrofon

„Project O“, Maxim Gorki Theater © Firat Gürgen

1982 im anatolischen Urfa in eine türkisch-kurdische Musiker-Familie hineingeboren, war Musik in Anthony Hüseyins Erinnerung schon immer da: Der Vater wurde als Sänger in der Türkei kürzlich für sein Lebenswerk geehrt. Diesen Teil des Familienerbes hat Anthony Hüseyin auf dem Weg in die Kunst mitgenommen. In „Dschinns“ sind die Entertainer-Qualitäten unverkennbar, starke Stimme, großer Auftritt, irgendwo zwischen Frank Sinatra und Ella Fitzgerald, zwischen Zeki Müren, dem türkischen David Bowie und dem Idol Freddie Mercury. Doch auch die leisen Töne dringen durch.

Für Nurkan Erpulats Inszenierung von „Dschinns“ am Gorki Theater ist die Besetzung Anthony Hüseyin ein Glücksfall. Das gilt für die Rolle Ciwan ebenso wie für das musikalische Konzept der Inszenierung, für das o verantwortlich ist. Bereits existierende Lieder aus dem Album „Project O“ kombinierte o für die Produktion mit Neukompositionen, türkisch und kurdisch, deutsch und englisch gesungen, dazu 80er Jahre-Pop und Nina Simones „Wild is the Wind“. Vielstimmig, divers ist der Soundtrack zur dieser Familienaufstellung. „Weil die Geschichte emotional derart aufwühlend ist, wollte ich eine Art Teppich schaffen, etwas, das das Publikum hält.“  Zugänglichkeit war ein zentrales Anliegen für das musikalische Konzept. Bei möglichst vielen sollte sich das Gefühl einstellen: „Das könnte meine Geschichte gewesen sein“. Diese Idee hat sich eingelöst. Konflikte und Traumata der Eltern werden im Stück einmal mehr weitergegeben an die nächste Generation. Mehr als nur Gastarbeitergeschichte ist „Dschinns“, auch dank der Musik, eine universelle Erzählung über das System Familie. 

Jenseits von Genregrenzen

Anthony Hüseyin ist frei schaffend. Und das Engagement des Maxim Gorki Theater, das passte gut. Als sie sich bei einer Aftershow-Party kennenlernten, hatte Yunus Ersoy, damals kuratierende Person am Studio Я, die Idee, aus Anthonys damals gerade erschienenem Album „Project O“ ein Stück für die Bühne zu machen. Entstanden ist dabei ein Abend jenseits der Genregrenzen. Anthony trägt langes glitzerndes Gewand, goldglänzendes orientalisches Bustier über zartem Brusthaar, schimmerndes Makeup, angeklebte Wimpern. In diesem Kostüm erzählt o die eigene Geschichte. Der Junge, der einen anderen Jungen liebt, die Sphären seiner Welt erspürt. Traditionelle Musik, Zwist mit den Brüdern, Angst um die geliebte Mutter, die vom Vater unterdrückt wird.

Wie Anthony Hüseyin ihr zum Geburtstag Rosen und eine Packung Zigaretten schenkte, sang und weinte vor Liebe und Scham. Das ganz Private wird politisch in der Öffentlichkeit der Theatersituation. Singen und Reden ist Ermächtigung. Sprechen statt schweigen, hoffen statt verzweifeln. Und so ist „Project O“ ein Ein-Personen-Musical, Lecture-Performance, Forschungsbericht darüber, was es heißt, eine queere, nicht binäre, POC-Person mit türkisch-kurdischen Wurzeln zu sein. All das unter dem liebenden Auge des O, dem genderneutralen türkischen Personalpronomen, Symbol für Menschsein jenseits des binären Codes.  

Mehrere Darstellende, eine an einem E-Klavier, die anderen darum herum

Szene aus „Dschinns“ von Fatma Aydemir, Maxim Gorki Theater © Ute Langkafel

Der künstlerische Weg führte Hüseyin Badıllı (so der bürgerliche Name) weg von der Heimat, weg von den Brüdern. Studium des klassischen Gesangs und Jazz-Ausbildung in Istanbul und Rotterdam. Dort nimmt o einen neuen Namen an, eine neue Identität: arbeitet an der Flexibilität der Stimme, die nicht festgelegt werden will auf ein Geschlecht. Stattdessen fliegt sie und fließt. In der Opernwelt sind bestimmte Stimmlagen an spezifische Rollen geknüpft. Anthonys Hüseyins Stimme gilt als Tenorbuffo, für dramatische Rollen ungeeignet. Schon wieder Schubladen und Kategorien, die das Feld kleiner machen. Bei der Ausbildung sei es darum gegangen, die Flexibilität der Stimme zu trainieren, Stimmtechniken zu erlernen, mit denen unterschiedliche Regionen des Stimmapparat anzusteuern sind: Arbeit an Diversität in einer Gesellschaft, die ihre Kategorien pflegt.

Anthony Hüseyins Performance „Playing Possum. My Brothers might kill me“ kam im Jahr 2015 beim Live Art Festival in Helsinki heraus. Sich öffentlich totstellen, um zu überleben! Unter dem Eindruck einer konkreten Drohung aus der Familie inszenierte Anthony die eigene Beerdigung. Keine Angst vor Provokation oder diese Angst in Veränderungsenergie ummünzen. Im Jahr 2018 zog Anthony Hüseyin aus Rotterdam nach Berlin.  O befragte die eigene geschlechtliche Identität, ein weiterer wichtiger Schritt auf dem persönlichen und künstlerischen Weg. „Uns wird beigebracht, dass wir uns sicher fühlen in der binären Geschlechterkonstruktion. In dem Gefühl, dass ich da nicht reinpasse, hatte ich mit meinen Kostümen und Makeup mein Geschlecht längst dekonstruiert.“ Sich als nicht- binär zu begreifen, das war, als betrachte man die Welt durch eine neue Linse. Die Dinge waren eher auf einem Spektrum angeordnet als säuberlich getrennt oder gar in Gegensätzen konstruiert. In dieser Zeit entstand „Project O“ als Album und später als Bühnenshow.

Klassistisches Theatersystem

Nach der langen Reise zu sich selbst blickte Anthony Hüseyin zurück nach Urfa, entdeckte queere Aspekte in der traditionellen Kultur. O erzählt von den Liedern, die die Männer bei ihren musikalischen Zusammenkünften im Dorf singen. Ganz unter sich essen sie C¸ig˘ Köfte und genießen die Gemeinschaft. In einem bekannten Lied wird ein gewisser Ömer besungen. „Sei mein Pascha, sei mein Sultan“ singen die Männer, wollen Ömer ganz für sich allein. In der Produktion „Project O“ performt Anthony Hüseyin eine jazzige Version dieses Songs. Während im Hintergrund auf einem Video die Männer von Urfa singend zu sehen sind, betritt eine queere Person, Ömer, die Bühne, kommt verführerisch tänzelnd auf Anthony zu. 

Vieles ist gelungen ist auf dem künstlerischen Weg. 2023 wurden für die Langzeit-Performance-Ausstellung „No Intermission“ zwei Werke Anthony Hüseyins vom Marina Abramovic´ Institute in Amsterdam beauftragt. Die Arbeit am Gorki, der Performance-Auftritt beim Queerfestival Dortmund mit „O“, Auftritte in der Kantine am Berghain, Anthony Hüseyin ist sichtbar geworden mit Virtuosität und eigener Geschichte, erschließt neues Terrain, bezieht sich souverän auf die musikalischen Wurzeln, und hat viele neue Ideen. 

Eine person mit Mikrofon schmiegt sich an das nackte Bein einer anderen, stehenden Person

„Project O“, Maxim Gorki Theater © Firat Gürgen

Als queere Person ist es allerdings oft schwierig, im immer noch klassistischen Theatersystem Räume zu finden, Themen unterzubringen, auf Proben wirklich auf Augenhöhe zu sein. „Oft sollen wir queere Personen dankbar sein, dass wir mitmachen dürfen. Unsere Positionen werden zu wenig gehört. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung für unseren Input und unsere Kompetenz auch, was Diskriminierung angeht.“ Es gilt also die traditionellen Institutionen zu befragen, Opern, Theater und das Repertoire. „Crime of Passion, (Verbrechen aus Leidenschaft)“ heißt das neue Stück, gerade in Arbeit. Ein Produktionsort dafür wird noch gesucht. Es geht um Femizid als Topos der Opernliteratur. „Ist doch seltsam, dass reiche weiße Männer in prunkvollen Opernhäusern gern zusehen, wie Frauen umgebracht werden.“ In der Tat. Salome, Carmen und Violetta, große Figuren aus dem Kanon, dazu Femizide der Gegenwart. Wir kommen unweigerlich auf Gaza zu sprechen. Anthony sieht einen Zusammenhang zwischen dem binären Denken und der Art und Weise, wie dieser Konflikt behandelt wird: „Aus meiner nicht-binären Perspektive sehe ich deutliche Parallelen zwischen der patriarchalen Behandlung von Transgender-Frauenkörpern und der Kolonialisierung von Nationen.“ Leider ist die Unterwerfung ein Prinzip des Patriarchats. 

Um all dem etwas entgegenzusetzen, arbeitet Anthony Hüseyin an neuen Bildern und Perspektiven. Diese fordern gewohnte Strukturen heraus, inspirierend und oft auch unbequem für den Betrieb. Aber genau darum, um das Neue, das kritische Denken geht es schließlich in der Kunst. Anthony Hüseyins „hope-shaped-songs“, Fortsetzung des vorigen Albums, werden als EP am 10. Oktober in der Kantine am Berghain released. In dem queeren Hochzeitslied, das darin vorkommt, sind alle Kriege vorüber.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 1 der Queeren Bühne.