Sarah Mehnert (Lisa) drückt Emma Moore (Marta) an die rechte Bühnenwand und schüchtert sie ein.

Das Vergangene wird nicht vergessen

Mieczysław Weinberg: Die Passagierin

Theater:Deutsches Nationaltheater Weimar, Premiere:05.04.2025Vorlage:Die PassagierinAutor(in) der Vorlage:Zofia PosmyszRegie:Jossi Wieler, Sergio MorabitoMusikalische Leitung:Roland KluttigKomponist(in):Mieczysław Weinberg

Das Team Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock bringt am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ eine ergreifende Inszenierung auf die Bühne. Neben der imposanten Musik beeindruckt vor allem das Bühnenbild, das die Geschichte gleichzeitig in die Ferne rückt und ganz nah heran holt.

„Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg ist eine Jahrhundertoper. Obwohl sie erst 2010 das erste Mal auf eine Bühne kam. In Weimar erinnert die letzte Szene von Jossi Wielers atemberaubender Inszenierung jetzt an die Bregenzer Uraufführung. Die Geschichte der sonderbaren Wiederbegegnung der KZ-Aufseherin Lisa Franz und der polnischen KZ-Insassin Marta, die auf den Erinnerungen der 1923 geborenen Polin Zofia Posmysz beruht, die das Vernichtungslager überlebte und 2022 starb, endete bei Regisseur David Pountney so, dass sich nach den letzten Worten Martas, die das Nichtvergessen anmahnen, der Vorhang wieder hob, und die leibhaftige Zofia Posmysz, gekleidet wie Marta, das Gesehehene durch ihre pure Anwesenheit beglaubigte.

Wie hier Zeitgeschichte und Oper zusammentrafen, das war ergreifend wie man es selten erlebt. In Weimar erhebt sich Marta, sichtlich gealtert, aufgestützt und mit zitternder Hand Richtung Publikum für ihre Mahnung. Auch wer nicht in Bregenz dabei war, kann sich der emotionalen Wucht weder dieses Ausrufezeichens am Ende noch der ganzen Inszenierung entziehen.

Ort der Geschichte

Wieler und die beiden künstlerischen Partner seiner größten Inszenierungserfolge, Co-Regisseur und Dramaturg Sergio Morabito und die kongeniale Raum-Erfinderin Anna Viebrock haben den Nachinszenierungen, der in Weinbergs Heimat zu seinen Lebzeiten nie aufgeführten Oper, eine der gescheitesten Varianten hinzugefügt. Sie haben sich (wie schon Tobias Kratzer in München) der direkten, quasi naturalistischen Bebilderung des KZs Auschwitz enthalten, loten aber dennoch tief.

Anna Viebrock ist in dem Falle nicht nur die Raumerfinderin ist, sondern sie hat erstmal einen aus der Vergangenheit sprechenden Raum gefunden und als Ort einer Schichtung und Verschränkung der Zeitebenen adaptiert hat. Es ist der Saal, in dem die vom legendären Eichmann-Jäger und hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Auschwitzprozese im Frankfurter Gallusbau stattfanden. Auf der Bühne ist das ein beklemmend fensterloser Saal, der im unteren Teil mit einer drei Meter hohen schwarzen Farbschicht versehen ist. Damit ist die berüchtigte schwarze Wand, vor der in Auschwitz Menschen erschossenen wurden stets gegenwärtig.

Distanz und Nähe

In der einen Handlungsebene der Oper befinden sich Lisa und ihr Diplomaten-Ehemann Walter 15 Jahre nach Kriegsende auf einer Schiffsreise nach Brasilien. Daran erinnern eine Reling im Hintergrund und ein imaginärer Seegang, der die Passagiere immer mal aus dem Gleichgewicht bringt. Die Reisegesellschaft ist im Stil der Wirtschaftswunderjahre gekleidet. Die Lagerinsassen, die die aufbrechende Erinnerung an die Zeit im KZ (in der zweiten Handlungsebene) beherrschen, sind gekleidet wie zur Zeit ihrer Verhaftung und Deportation.

Das ist eine Verfremdung, die das Grauen scheinbar in die Ferne rückt, es in Wahrheit aber näher heran holt. Den gleichen Effekt hat das Auftreten der SS-Leute. Sie geben ihre zynischen Sprüche nicht (mehr) in schwarzen Uniformen von sich. Es ist ihr Wohlstandswunder-Biedermann-Habitus, der hier erschreckt. Sie halten wie ertappte Mörder, die sich für Opfer halten, schützend ihre Aktentaschen vors Gesicht.

Hier wird Faulkners gerne (u.a. von Christa Wolf) zitierter Satz: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ zum Motto der Bildfindung. Dem Zivilisationsbruch und den Versuchen der Täter, genau den zu vertuschen, ohne Uniform und ausgestelltes Grauen auf die Spur zu kommen und bis ins Hier und Heute zu verfolgen, ohne dass es platt und agitatorisch wird, das muss man erstmal hinbekommen. Das bedarf so erstklassiger Könner wie in Weimar.

Am Puls der Zeit

Hinzu kommt, dass einem auch die musikalische Qualität, die Roland Kluttig mit der Staatskapelle Weimar hier erreicht, den Atem verschlägt. Dem Reichtum und der Originalität einer Musik so zu ihrem Recht zu verhelfen, hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit und rückt den vom Schicksal gebeutelten, nur um ein Haar im Gulag auf der Strecke gebliebenen Schostakowitsch-Schüler ins rechte Licht.

Gesungen wird bewusst in einer von Susanne Felicitas Wolf und Sergio Morabito neu erarbeiteten passgenauen deutschen Übersetzung – ohne etwa die Russin im Stück wegzukürzen, wie in München. Der von Jens Petereit eistudierte Chor und die Protagonisten sind durchweg großartig. Gleichwohl ragen Emma Moore als Marta und Sarah Mehnert als Lisa, Taejun Sun als Walter und Ilya Silchuk als Tadeusz heraus. Als Gesamtkunstwerk und Beitrag zu den Diskursen der Gegenwart ist diese „Passagierin“  exemplarisch gelungen!