
Der schnelle Kick?
Foto: Gibt es den schnellen Kick an der Bar? Wolfgang Amadeus Mozarts „Le nozze di Figaro“ in der Inszenierung von Martin Kušej. © Matthias Horn Text:Regine Müller, am 1. Oktober 2023
Bei den Salzburger Festspielen fällt die Bilanz im Musiktheater durchwachsen aus, während Bettina Hering eine starke letzte Spielzeit als Schauspielintendantin gelingt. Eine Festivalbilanz
Das Festivalmotto „Die Zeit ist aus den Fugen“ nach Shakespeares „Hamlet“ schlägt betont ernste Töne an, der krisenhaften Weltlage angemessen. Die siebte Saison unter der Intendanz von Markus Hinterhäuser lässt jedoch insbesondere in der Oper gewisse Ermüdungserscheinungen erkennen. Liegt es an sich wiederholenden Besetzungen, die einst zündeten und ihre Erfolgserwartungen matter einlösen als einst?
Der schnelle Kick: „Le Nozze di Figaro“
Jedenfalls gibt es bereits in Martin Kušejs Inszenierung von Mozarts Opera buffa „Le nozze di Figaro“ zum Auftakt herzlich wenig zu lachen. Der abtretende Burgtheaterchef gab vorab bekannt, er sehe in Mozarts Figuren „vereinzelte Menschen, auf der Suche nach dem schnellen Kick“.
Bereits zur Ouvertüre findet sich das Personal am Bühnenrand ein, wenn die Reprise beginnt, erwachen alle aus ihrer Erstarrung und ziehen sich rasch die jeweils bevorzugte Droge rein. Der schnelle Kick halt, bevor es losgeht. Die erste Szene spielt in einer Bar, ein Schuss fällt, ein toter Mann kippt aus einer Tür, zwei Männer suchen in seinen Taschen nach Beute. Die ehrenwerten Herren sind Graf Almaviva und Don Basilio, Mitglieder eines mafiösen Clans.
Die Regie erkennt im Personal keine Lichtgestalt, alle haben ihre Heimlichkeiten und sind mehr oder weniger sympathisch. Damit ist Kušej ganz beim Menschenversteher Mozart. Doch verliert die Clan-Idee trotz handwerklich souveräner Inszenierung zunehmend an Spannung, zumal man sich für keine der Figuren wirklich interessieren will. Geht es bei Mozart nicht um große Fragen nach der Echtheit der Gefühle? Also bleibt die finale Versöhnung schal, alle treten wieder an die Rampe, alles wie immer. Ein bisschen dünn für Mozarts Meisterwerk.
Die musikalische Seite des Abends schürft tiefer. Raphaël Pichon steht erstmals am Pult der Wiener Philharmoniker und animiert sie zu einem rasanten, aber nie gehetzten Mozart-Stil. Die Wiener klingen schlank und leuchtend, beweglich und angriffslustig.

Mit Lessings „Nathan der Weise“ in der Regie von Ulrich Rasche kommt auf der Perner-Insel ein unerbittliches Textritual zur Premiere. Foto: Monika Rittershaus
Hämmerndes Textritual: „Nathan der Weise“
Nach diesem fahrigen „Figaro“ kommt mit Lessings „Nathan der Weise“ in der Regie von Ulrich Rasche auf der Perner-Insel ein unerbittliches Textritual zur Premiere. Die Bühne besteht aus drei Drehscheiben, die auch gegeneinander rotieren. Sie bieten dem Personal ständigen Widerstand, gegen den angegangen werden muss.
Die Stimmen pressen stockend die Texte aus sich heraus, jedes Wort hämmert sich einzeln ins Hirn. Die Texte stammen nicht nur aus Lessings Thesenstück, sondern integrieren antisemitische Texte von Voltaire, Kant und Johann Gottlieb Fichte. Regisseur Ulrich Rasche konterkariert Lessings Aufklärungsstück also mit der Frage, ob der Antisemitismus ein systemimmanentes Phänomen der Aufklärung sei, das hineinragt bis in unser heutiges offenes Gesellschaftsmodell, und ob sich hinter Toleranzgedanken nicht schon wieder Absolutheitsansprüche verbergen.
Überragend ist Valery Tscheplanowa als „Nathan“, zart und vibrierend vor Energie, wie eine Tänzerin, mit heller, klarer Stimme zelebriert sie die Ring-Parabel wie eine große Anklage und ist hinreißend präsent. Alle bestechen mit plastischer Diktion und maximaler Energie für das archaische Textritual, ein ästhetisch, formal und inhaltlich starker Abend.

Verdis „Macbeth“ inszeniert von Krzysztof Warlikowski. Foto: Bernd Uhlig
Kleinteilig verzettelt: „Macbeth“
Auf dieses Stahlbad folgt Verdis „Macbeth“, inszeniert vom in Salzburg bestens bekannten Krzysztof Warlikowski. Zu Beginn begleitet eine Videokamera Lady Macbeth in eine Arztkabine, auf den gynäkologischen Stuhl. Die Diagnose ist ernüchternd: Sie wird keine Kinder bekommen können.
Aus der unerfüllten Sehnsucht, das eigene Weiterleben und damit auch die dynastische Macht durch Kinder zu sichern, erklärt Regisseur Krzysztof Warlikowski nun das ganze folgende Geschehen, zu dem das mörderische Paar sich gegenseitig aufstachelt. Eine These, die aufgehen könnte. Tatsächlich aber verliert Warlikowski sich in einer Überfülle von Assoziationen und Filmzitaten, verzettelt sich an kleinteilige, parallel einander überbietende Details und kommt dem Rätsel des mordlustigen schottischen Paars nicht wirklich näher.
Auch die musikalische Seite des Abends reißt es nicht raus: Philippe Jordan kämpft anfangs mit erheblichen Koordinationsproblemen. Asmik Grigorian ist spürbar nervös vor der Monsterpartie der Lady, später fängt sie sich, liefert starke Momente ab, aber sie ist einfach kein Verdi-Sopran, die Höhe klingt unfrei, festgehalten. Vladislav Sulimsky singt die Titelpartie mit schönem Legato und beherztem Zugriff, bleibt aber seltsam blass.

Ein formales Experiment: Karin Henkel bringt eine Theaterfassung des Films „Liebe (Amour)“ von Michael Haneke zur Uraufführung. Foto: Matthias Horn
Ernstes Kammerspiel: „Liebe (Amour)“
Die nächste Schauspielpremiere ist ein formales Experiment: Karin Henkel bringt eine Theaterfassung des Films „Liebe (Amour)“ von Michael Haneke zur Uraufführung. Am rechten Bühnenrand sitzt André Jung und hält ein Kopfkissen fest, starrt leer vor sich hin. Wer Hanekes grandiosen Film kennt, weiß, was das Kopfkissen zu bedeuten hat. Vor elf Jahren kam der Film in die Kinos. Das Kammerspiel handelt von einem älteren großbürgerlichen Pariser Ehepaar, das mitten im Leben steht, als die Frau einen Schlaganfall erleidet und pflegebedürftig wird. Der Mann ist überfordert mit dem hilflosen Ertragen ihrer Qual, schließlich greift er wie spontan nach einem Kissen und erstickt sie.
Karin Henkel bricht das Setting auf und weitet den Fokus, sie lässt alle Stationen der Überforderung und Hilflosigkeit erzählen, geht aber über die private Erzählung hinaus, denn sie fügt Recherchen ein über den Alltag der Pflegeindustrie, wenn etwa im kalten Stakkato aus Lehrbüchern für Pflegepersonal zitiert wird. So nähert sie sich einem gesellschaftlichen Tabuthemenkomplex: Wie gehen wir mit Alter, Krankheit und Pflege um? Müssen wir das Thema Sterbehilfe überdenken? Ein ernster, konzentrierter, niemals plakativer Abend.

Altmeister Christoph Marthaler inszeniert Verdis „Falstaff“. Foto: Ruth Walz
Zäher Slapstick: „Falstaff“
Den Auftakt der zweiten Premierenserie macht Altmeister Christoph Marthaler mit Verdis „Falstaff“. Der Regisseur zweifelt zu Recht am allzu prallen Falstaff-Klischee und sieht ihn eher als einen melancholischen Ritter der traurigen Gestalt. Leider baut er zu dieser Einsicht einen Wust aus Metaebenen auf, die er an der fixen Idee aufhängt, dass Orson Welles eine Schwäche für die Figur des schwergewichtigen Liebesritters hatte.
Daher verlegt Marthaler die Handlung in ein chaotisches Filmset und lässt Orson Welles (Marc Bodnar) über die Bühne (Anna Viebrock) tappen. Man weiß also nie, wird hier gerade gedreht, vorbereitet, oder ist die Szene „echt“? Ansonsten gibt es viel Slapstick: Assistenten purzeln in einen leeren Pool, ein Menschenknäuel kugelt herum, Menschen klemmen sich in Liegestühlen ein. Aber es wird nicht gelacht im Festspielhaus, zäh schleppt sich das Geschehen fort, zumal auch die musikalische Seite des Abends flau bleibt: Unter Ingo Metzmachers wenig Italianità versprühendem Dirigat klingen die Wiener Philharmoniker strohig, unsinnlich, auch will die Koordination mit der Bühne nicht durchweg glücken.

Bohuslav Martinůs „The Greek Passion“. Foto: Monika Rittershaus
Grandioses Passionsspiel: „The Greek Passion“
Tags darauf ein minimalistisches Kontrastprogramm bei Bohuslav Martinůs „The Greek Passion“: Die riesige Bühne der Felsenreitschule ist komplett in hellem Grau ausgeschlagen und leer (Bühne: Lizzie Clachan). Von links kommt eine Gruppe grauer Menschen herein. Es sind die Bewohner eines griechischen Dorfes, die Ostern feiern. Der Priester Grigoris teilt ihnen mit, wer von ihnen beim Passionsspiel für welche Rolle ausgewählt wurde. Dann kommt eine weitere Gruppe herein, heutige Flüchtlinge mit Zelten, Plastiktaschen und Schwimmwesten. Sie bitten um Asyl, doch der Priester und die Dörfler bleiben abweisend mit Ausnahme jener, denen Rollen im Passionsspiel anvertraut wurden. Am stärksten identifiziert sich der Hirte Manolios mit seiner Rolle, er soll den Christus spielen. Am Ende wird er von den Dorfbewohnern umgebracht, die Flüchtlinge ziehen weiter.
Martinůs 1961 uraufgeführte Oper arbeitet mit holzschnittartigen Typen, sie ist mehr eine oratorische Parabel als dramatische Oper. Regisseur Simon Stone hütet sich vor plakativer Aktualisierung. Er belässt das Geschehen im abstrakten Raum, findet einfache, aber starke Bilder und setzt ganz auf die Wucht der minutiösen Chorregie. Maxime Pascal meistert am Pult der Wiener Philharmoniker Martinůs hochkomplexe Partitur souverän und mit sensiblem Sinn für ihre harschen Brüche. Großer Jubel für alle Beteiligten für den größten Erfolg dieses Opernjahrgangs.

Die Schweizer Theatergruppe Hora spielt Brechts „Kaukasischen Kreidekreis“, Regie führt Helgard Haug vom Kollektiv Rimini Protokoll. Foto: Monika Rittershaus
Inklusiv gelungen: „Der kaukasische Kreidekreis“
Parallel dazu eine eher stille Sensation: Denn erstmals kommt das Thema Inklusion bei den Salzburger Festspielen an. Bei der Schweizer Theatergruppe Hora spielen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung Brechts „Kaukasischen Kreidekreis“ durch, Regie führt Helgard Haug vom Kollektiv Rimini Protokoll. Acht Mal wird die zentrale Szene aus dem Brecht-Stück durchdekliniert und damit die generalisierte Frage: „Wer kann eine Mutterrolle einnehmen?“
Auf einer Spielfläche aus Quadraten und Würfeln agieren vier Darsteller, der per Video zugeschaltete Soldat Simon und die Musikerin Minhye Ko an der Marimba, immer wieder wischen Cleaning Robots die Kreidekreise weg. Die Darsteller agieren minimalistisch, ihr Schwyzerdütsch schafft einen zusätzlichen V-Effekt. Anrührend und zum Nachdenken anregend.
Fazit:
In Salzburg ist den Raritäten und inhaltlich-formalen Wagnissen mehr Fortune beschieden als Repertoirewerken mit prominenten Besetzungen. Die Auslastung ist famos, das Publikum reagiert unbestechlich. Kinder, wagt Neues!
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 10/2023.