Vampirschloss statt Medienhaus: Ensembleszene aus „Noch wach?” am Thalia Theater

„Mir reichelts!“

Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ gilt als der Schlüsselroman des Jahres und verhandelt die #MeToo-Fälle rund um den ehemaligen BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. Christopher Rüping verteilt am Thalia Theater den Ich-Erzähler des Buches aufs Ensemble – und zeigt das Berliner Medienhaus als Vampirschloss. Chefredakteurin Ulrike Kolter im Gespräch mit Andrea Huss, die Frauen in Führungspositionen coacht und dabei auch #MeToo-Erfahrungen begleitet.

Ulrike Kolter: Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ ist im April erst erschienen, keine fünf Monate später bringt das Thalia bereits die Uraufführung des medial gehypten Schlüsselromans auf die Bühne. Wie aktuell Theater sein kann! Als gut dreistündige Bühnenshow von vier Schauspielerinnen und zwei Schauspielern mit Livemusik. Sie waren in der zweiten Vorstellung, nachdem die Premiere zwei Tage zuvor in Anwesenheit von Stuckrad-Barre einhellig bejubelt worden war …

Andrea Huss: Die zweite Vorstellung war von der Stimmung her fast wie eine Premiere: bis auf ganz wenige Plätze ausverkauft, mit einem weiblichen Anteil im Publikum von rund 80 Prozent, davon viele jüngere Frauen, das fand ich auffällig. Am Ende gab’s Standing Ovations und begeistertes Johlen.

Ulrike Kolter: Viele Frauen also, die eine theatrale Romanadaption zum Thema #MeToo feiern: Es geht um die Männerfreundschaft eines Schriftstellers zum Chef eines großen Berliner Medienhauses, die zerbricht, weil dieser „Freund“ tatenlos zusieht, wie zahllose Mitarbeiterinnen seines Senders dem Anmachgebaren eines einzelnen Chefredakteurs ausgeliefert sind … Es ist die fiktionale, dennoch offensichtliche Analogie zu Stuckrad-Barres ehemaliger Freundschaft mit Springer-CEO Mathias Döpfner und dem Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt: sexuelle Kooperation gegen Karrierefortschritt, im Buch erzählt aus der Perspektive des Schriftstellers. Das auf die Bühne zu bringen konnte nur gelingen, indem man irgendwie Distanz herstellt, oder? 

Andrea Huss: Meine größte Befürchtung war, dass Regisseur Christopher Rüping Stuckrad-Barres Text noch eine weitere männliche Ebene hinzufügt: Ein Mann inszeniert das Werk eines Mannes, der über andere Männer schreibt, wobei es doch um die Frauen gehen sollte. Diese Sorge hatten auch das Theater und Rüping selbst, wie ich in der Einführung hörte. Dass die Entscheidung fiel, Stuckis erzählendes Ich von mehreren Frauen und Männern spielen zu lassen, hilft der Mehrdeutigkeit und dem Facettenreichtum auf der Bühne. So kann sich ein wütendes Ich einfach aus der Gruppe der Sprechenden absondern und von der Seite her kommentieren. An keiner Stelle sind die Spielenden ganz identifiziert mit dem Text, sie springen mühelos zwischen „Ich verkörpere“ und „Ich erzähle“. Und das vervielfachte Stucki-Ich spricht sogar die Texte von Sophia, der Moderatorin, die ihm als erste von mehreren Frauen offenbart, wie sie sich in den Klauen des Chefredakteurs verfangen hat.

Ulrike Kolter: Maike Knirsch gibt die Sophia mit einer wahnsinnig emotionalen Spielwucht: erst das naive Girlie, das mit ihrem Schmollmund alle weiblichen Reize sehr bewusst einsetzt; später dann genauso eindringlich die gebrochene, benutzte Frau, die ihrem Selbsthilfegruppen-Kompagnon den „Fickrückfall“ mit ihrem Chefredakteur beichtet. Für mich war sie als Gegenpol zum aufgesplitteten Stucki-Ich-Erzähler total wichtig. Ging Ihnen das auch so?

Andrea Huss: Ja, das ging mir auch so. Eine Szene fand ich besonders berührend: Sophia sitzt emotional erschöpft neben einem der Stucki-Ichs und hört ihrer eigenen Geschichte zu. Ich arbeite als Business-Coach vor allem mit Frauen in Führungspositionen. Darunter waren schon mehrere, die unangenehme Erfahrungen mit übergriffigen Kollegen und Vorgesetzten gemacht haben. Sie wollten durch das Coaching besser begreifen, was da abgelaufen war. Die Aufteilung in mehrere Ichs entspricht der Coaching-Methode des inneren Teams. Damit kann eine Klientin ihre inneren Widersprüche erleben, sie ist dann etwa „Die Schamvolle“, „Die Wütende“ und „Die Strategische“. In dieser Multiperspektivität wird ein tieferes Verstehen möglich. Das Thalia-Ensemble fand ich durchweg großartig darin, in Sekundenschnelle hinüberzuwechseln vom authentischen Schauspieler-Ich in das gespielte erzählende Ich und dann noch weiter ins Rollen-Ich, Brechts V-Effekt lässt grüßen …

Ulrike Kolter: Oh ja, das Ensemble war phänomenal (auch wenn mich Julia Riedlers monoton-kalte Stimmführung genervt hat). Vor allem Hans Löw als „Freund“ und Chef des Medienhauses gelang es, die Diskrepanz der Story auszuloten: diese Zerrissenheit zwischen Freundschaft und Machtkalkül, Nahbarkeit und Arschlochsein. Greifbar wurde die in einer der für mich stärksten Szenen: wie Nils Kahnwald (als Schriftsteller-Ich) und Hans Löw zu „Keep on Dancing“ im Dauerregen tanzen, sich suhlen und umarmen, wissend, dass diese Freundschaft keine Zukunft hat … Für mich lag in solchen Momenten die Stärke von Rüpings Inszenierung, wenn nämlich die Figuren so verletzlich waren wie hier. Sicher auch wegen der Songs, die im Stück eine große Rolle spielen. Die Livemusik von Matze Pröllochs (Schlagzeug) und Inéz (Gesang) entfaltet vor allem am Ende eine gewaltige Kraft, oder?

Regentanz einer Männerfreundschaft: Szene mit Nils Kahnwald (l.) und Hans Löw. Foto: Krafft Angerer

Andrea Huss: Am Ende, das war natürlich spektakulär und wohl die Szene, die sich allen Zuschauenden für lange Zeit einbrennen wird. Inéz, in einem zartlila Fabelwesenkostüm, singt mit starker Stimme „All that I am is far more than you understand“, während hinter ihr auf mehreren Leinwänden Videosequenzen zu sehen sind. Wie ich später im Programmheft las, übrigens ausschließlich als Referenz an Frauen, mit dabei Arbeiten von Agnès Varda, Alice Neel und Fotos von Annie Ernaux und Arundhati Roy. Und während sie singt, gesellt sich nach und nach das Ensemble hinzu: Maike Knirsch ist verwandelt in eine Menschmaschine mit ewig langen Beinprothesen, Löw wie eine Mumie eingesponnen in Plüsch, eine Schauspielerin ist ein Kentaur, jemand anderes ist reich behängt mit Perlen. So fantastisch wie rätselhaft stehen sie im Raum, nachdem alles von allen gesagt wurde zum Thema Machtmissbrauch und #MeToo. Für mich ein Bild der Diversität, eine Vision, dass, so verschieden wir sind, wir doch alle ebenbürtig sind. Ein männlicher Zuschauer, mit dem ich darüber sprach, erkannte darin eher die Klischees, die Männer in Frauen sehen: die Langbeinige, die Kuschelige, die Trophäe … Ob so oder so: Dieses opulente Gesamtkunstwerk aus Video, Kostüm und Musik gab dem Abend einen Twist weit über die Medienwelt hinaus, in der das Stück spielt. Pathos, aber von der guten Sorte. Das gefiel mir auch als Kontrast zum betont Lächerlichen, das die Szenenbilder bis dahin oft hatten. 

Ulrike Kolter: Humor ist ja ein probates Mittel, den Tragödien unserer Welt zu begegnen: Rüping lässt zu Falcos „Out of the Dark“ eine Horde Vampire die Bühne bevölkern, und aus Särgen neben einem riesigen Vampirschloss entsteigt der Senderchef als Dracula … Medien- und Machtmissbrauch blutsaugender Männer: grotesk gut oder albern? Die Hotel-Parallelwelt in Los Angeles, wo der Schriftsteller anfangs lebt, besteht aus einem aufblasbaren Kinderpool mit Silberpalme. Und die Kurzauftritte des Chefredakteurs sind zur Lachnummer stilisiert: Nils Kahnwald gibt ihn rosabehemdet und peinlich naiv. „Mir reichelts!“ – so viel Wortspiel muss sein. Was nach Klamauk klingt, blieb mir oft im Hals stecken, so bitterböse gut war es gespielt. Oder fanden Sie die Kernthematik #MeToo dadurch verhöhnt?

Andrea Huss: Was den Chefredakteur angeht: Der war mir zu klamaukig angelegt. Ein kleiner Mann, der auf dicke Hose macht und die Miniversion des Dracula-Umhangs seines Chefs trägt. Wie soll diese Schießbudenfigur den Eros der Macht versprühen? Das greift zu kurz und bedient das im Hass geborene Zerrbild von Stuckrad-Barre, für den Reichelt einfach ein „Krawalldödel“ ist. Die Dracula-Festung fand ich aber genial als Bild. Als Ausdruck des kindlichen Spaßes, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Mit reißerischen Schlagzeilen, die nicht etwa schick digital eingeblendet wurden, sondern primitiv an die Wand gesprayt. Von Transformation, New Work und Open Space schwadronieren wie Döpfner, aber tatsächlich in der Welt von Grabenkämpfen und Gutsherrenart zu Hause sein – dieser Kontrast kam sehr gut rüber. Auch gab es ja diese wunderbare Szene, in der die „Feelgood-Managerin“ des Medienkonzerns all den Stuss herunterseiert, mit der die Mitarbeitenden auf die goldene Zukunft eingeschworen werden sollen. Marketing-Sprech in eigener Sache, um zu verschleiern, dass die alten Platzhirsche in Berlin wie die Filmmogule in Hollywood nur an einem interessiert sind: ihre Vorherrschaft zu erhalten. Oder wie Stuckrad-Barre es schrieb: „Führungskräfte in Frauen“ statt „Frauen in Führung“. 

Ulrike Kolter: Stuckrad-Barres Texte auf die Bühne zu bringen ist ja nicht ganz ohne – auch „Panikherz“ ging 2018 über drei Stunden. Ich persönlich liebe seinen humorvoll-illustrativen Stakkatostil, sein Spiel mit Silben und Wortklängen, deshalb war mir keine Minute des Abends zu lang. Hätte man in Ihren Augen mehr straffen sollen?

Andrea Huss: Rüpings Bühnenfassung liefert wirklich das Best-of aus dem Buch. Zwar bleibt er dem Plot sehr treu, doch hat er die Texte so gekürzt, dass die Frauenperspektive mehr Platz und Kraft bekommt. So kam mir der Schlüsselroman tatsächlich gehaltvoller vor, als ich ihn beim Lesen erlebte. Da kann man Stuckrad-Barre dankbar sein: Laut Rüping hat er der Fassung, die das Thalia Theater ihm zur Freigabe mailte, umgehend sein Okay erteilt, ohne die Version überhaupt angesehen zu haben.

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 10/2023.