Foto: Frostige Hochzeitsgesellschaft. © Semperoper /Sebastian Hoppe
Text:Michael Kaminski, am 16. März 2025
Regisseur Lorenzo Fioroni zeigt in seiner Inszenierung von Kaija Saariahos „Innocence“ an der Semperoper, wie die Erinnerungen an einen Amoklauf Betroffene aus der Realität reißen können. Dabei wird das Publikum mit unterschiedlichen Ebenen von Schuld konfrontiert. Gibt es in dieser Geschichte jemanden, der wirklich unschuldig ist?
Schuldig werden Menschen auf unterschiedlichste Weise. Kein Zweifel, wer Amok läuft, um Mitschüler- und Mitschülerinnen samt Kollegium zu erschießen, ist nach juristischer Maßgabe Mörder. Selbst, wenn die Minderjährigkeit des Täters zur Einweisung nicht ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie führt. Die Untat darf aber nicht vergessen machen, wie menschenverachtend die Opfer des Killers dem Delinquenten ihrerseits durch die Verbreitung schamloser Videos zusetzten. Eine weitere Ursache von Schuld besteht in Unterlassung. So durch Mitwisserschaft oder Errichtung familiärer Tabus. Kaija Saariahos 2021 beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführte Oper wägt diese unterschiedlichen Formen der Schuld nicht gegeneinander auf, doch arbeitet sie desto bedrückender ihre wechselseitige Verflechtung heraus.
Existenz(ab)gründe
Regisseur Lorenzo Fioroni gestattet sich allenfalls Anflüge von Bühnenrealismus. Dokumentarisches liegt ihm fern. Selbst die Überlebenden des Amoklaufs – einstige Schülerinnen und Schüler wie auch deren Lehrerin – geistern wie Untote über die Bühne. Offenbar auf der Suche nach Möglichkeiten der Rückkehr ins Diesseits und halbwegs erträgliche Existenz, irren sie traumatisiert zwischen Todes- und Lebensangst umher. Allein die spitzzüngige Markéta, bei der Mitschülerinnen und Mitschüler Spottlieder auf ihnen Missliebige wie den späteren Attentäter bestellten, sehnt sich nach dem Übergang ins Reich der Verstorbenen. Dazu aber müsste ihre Mutter endlich aufhören, sich zu benehmen, als weile die Tochter noch unter den Lebenden.
Unwirkliche Feierlichkeiten
Weil der Dialog zwischen ihnen sich während einer Hochzeitsfeier in der Familie des – vom Fest ausgeschlossenen – Täters entspinnt, auf der die Mutter kellnert, breitet sich auch über das bürgerliche Ritual die Atmosphäre des Unwirklichen. Je angestrengter Schwiegereltern und Bräutigam der Braut die Wahrheit über den Amokläufer-Schwager und die Mitwisserschaft des Mannes, mit dem sie soeben arglos und voll Vertrauen die Ehe einging, vorenthalten, desto vehementer taucht die Hochzeitstafel ins surreale Licht. Heutige Bourgeoisie agiert in Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Annette Braun ruft durch die kostümliche Rückprojektion in die Szenerien Ibsens und Strindbergs gar bürgerliche Gespenster auf den Plan. Schauriger noch dräut es aus der die Hochzeitstafel hinterfangenden Eis- und Schneelandschaft. Bühnenbildner Paul Zoller lässt die Wahl, ob darin gewöhnliche skandinavische Einöde oder bereits „Tuonela“, das Totenreich der finnischen Mythologie, zu sehen ist. Zollers Videos packen durch ihre die Empfindungen der Personnage ins Übergroße steigernden Closeups. Gleich dem szenischen fesselt der musikalische Zugriff.
Nicht von dieser Welt
Unter Jonathan Becker tönt der Chor des Hauses spukhaft aus dem Off. Weidlich kostet Maxime Pascal mit der Sächsischen Staatskapelle den Thrill der Partitur aus. Glissandi sirren wie über’s Eis, perkussive Attacken dringen gleichsam aus bis in die Grundfesten erschütterten Gemütern. Singende und Spielende formieren sich zum Ensemble aus einem Guss. Tenoral beglaubigt Mario Lerchenberger des Bräutigams Zerrissenheit zwischen der Liebe zur Angetrauten und den Schuldgefühlen gegenüber dem Bruder. Hinreißend, wie Venla Ilona Blom ihre Markéta ganz aus den Jodelrufen finno-ugrischen Folks erstehen lässt. Aus der zwischen Parlando und Sprechen changierenden Schülerriege ragt Schauspielerin Nusch Batut als die um die Vorbereitung des Attentats wissende Iris hervor.