Foto: Orazio Di Bella und Emilia Peredo Aguirre in Jean-Christophe Maillots „Vers un Pays Sage“ © Altin Kaftira
Text:Miguel Schneider, am 16. März 2025
Mit „Kaleidoskop“ eröffnete das Ballett am Rhein einen Abend, der das rastlose Pulsieren von Zeit in Bewegung übersetzt. In zwei Uraufführungen und einer Choreografie aus dem Jahr 1995 kreisen Tänzer:innen, Bühnenbilder und Musik umeinander, um immer wieder neue Räume des Erlebens zu erschließen.
Im Zentrum des Abends steht das Motiv der immerwährenden Dynamik: Ein sich durch alle drei Stücke ziehender Puls, der durch Minimalismus, perkussive Trommeln oder synthetische Elemente nie zur Ruhe kommt. So entsteht ein Klang-Kaleidoskop, das zwischen leisen, archaischen Sphären und beinahe poppiger Intensität hin- und herwechselt. Und wie die Musik kreisen die Bühnenbilder und Choreografien in einem spannungsvollen Miteinander.
Bei der ersten Arbeit für das Ballett am Rhein demonstrieren Iratxe Ansa und Igor Bacovich in „Moto perpetuo“ eine monumentale, sich drehende Skulpturenwelt, bevor Mthuthuzeli November in „Invocation“ den innersten Kern seiner südafrikanischen Wurzeln beschwört. Den rastlosen Abschluss bildet Jean-Christophe Maillots „Vers un Pays Sage“, eine Hommage an seinen Vater, das Leben und den künstlerischen Schaffensdrang.
Kreiselnde Welten
In der Eröffnung des Abends liegt eine ruhelose Spannung: Dunkelheit, ein Tänzer lehnt an einer gewaltigen Wand, die an die Stahlskulpturen des im vergangenen Jahr verstorbenen Künstlers Richard Serra denken lässt. Doch was bei „Moto perpetuo“ zunächst unbeweglich wirkt, entpuppt sich als wandelbare Konstruktion mit drei Segmenten, die sich mal sanft, mal drängend um eine Achse drehen. Zu Domenico Melchiorres sphärischem Prolog und später Philip Glass’ 3. Sinfonie verschmelzen die Tänzer:innen (Kostüme: Stefanie C. Salm) in kreisförmigen Hebungen und fließenden Drehungen; jeder Positionswechsel der „Skulptur-Wand“ eröffnet neue Räume, in denen sich das Ensemble neu formiert.

Szene aus „Moto perpetuo“ mit Dukin Seo, Yoav Bosidan, Márcio Mota. Foto: Altin Kaftira
Eine Schlüsselszene entsteht, als weißes und rötliches Licht wie Tag und Nacht von entgegengesetzten Seiten auf die rotierenden Flächen trifft und das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gruppe sichtbar macht: Während sich der Tänzer Márcio Mota wortwörtlich gegen den unaufhaltsamen Lauf der Zeit stemmt, holt ihn das unermüdlich kreisende Kollektiv in immer neuen Formationen zurück. Die schwarze Wandfläche kann als kühle Realität gelesen werden, das Rostrote als imaginierte Welt – beide verschmelzen im Tanz zu einem stetig rotierenden Ganzen. Am Ende kehrt die Bühne an ihren Ausgangspunkt zurück, als wäre nichts geschehen, und doch ist die fortschreitende Zeit im Raum spürbar.
Rituelle Anrufung
Auch das zweite Werk, „Invocation“, beginnt in einer leisen, beinahe bewegungslosen Stimmung: Ein rundes Dach thront über dem Bühnenraum, unten sitzt der Tänzer Long Zou auf einem runden Bodentuch, während weitere Tänzer:innen um ihn, wie um ein unsichtbares Feuer, lagern. November ruft hier seine Kindheitserinnerung wach: jene Zeremonien in der Hütte des Vaters, bei denen Tanz, Gesang und Gemeinschaft unzertrennlich sind. Mit perkussiven Stampfschritten und neoklassischen Spreizsprüngen entfaltet sich eine „erdverbundene“ Tanzsprache, die sich – kreisförmig angelegt – stets um ein Zentrum herum organisiert.
So entsteht eine Atmosphäre intensiver Anrufung, in der die Frage „Bin ich auf dem richtigen Weg?“ den Raum durchzieht. Das von November und Alex Wilson komponierte Klangbild steigert sich in repetitiven Pulswellen und weiträumigen Melodiebögen, bevor es sich in Babalwa Zimbini Makwetus Gesang auflöst. Einen markanten Kontrast setzt die mystisch-bunt gekleidete Figur (Entwurf: Yann Seabra), die wie ein Wegweiser wirkt und mögliche Antworten verheißt. Ihr lebendig leuchtendes Gewand strahlt farblich auf die nahestehenden Tänzer:innen ab, lässt Köpfe sinken und Körper in Trance verfallen, bis sie schließlich „entkleidet“ und als bloßer Mensch mit dem Ensemble verschmilzt.

Long Zou, João Miranda und Ensemble in „Invocation“. Foto: Altin Kaftira
Die spirituell aufgeladene Bewegung – teils archaisch, teils ballettös mit klaren Linien und gestreckten Armführungen – intensiviert den rituellen Charakter: Niemand verlässt die Bühne, alle erleben ein kollektives Atmen, Stampfen und Schwingen. Im Verlauf tauchen wechselnde Lichtstimmungen auf, beinahe wie ein Tag-Nacht-Zyklus, der die fortschreitende Zeit fühlbar macht und jene innere Suche nach Orientierung immer drängender werden lässt. Das Dach hebt und senkt sich wiederholt, wandelt den Kreis der Tanzenden – ohne, dass der Pfad jemals stillsteht. Erst als sich das Dach am Ende wieder herabsenkt, kommt eine Ruhe auf, die an den Anfang erinnert: Eine Rückkehr in Novembers innere Welt, in der er – und das Publikum mit ihm – die Kraft seiner Wurzeln und Vorfahren erspürt.
Eine Feier des Lebens
Das Finale führt in die Welt von Jean-Christophe Maillots Vater, dem Maler Jean Maillot, und damit in jene farbenprächtige Sphäre, die das Gemälde „Pays Sage“ beschwört. Hier aber wird sie in Bewegung versetzt: Ein Ensemble von zwölf Tänzer:innen wirbelt mit neoklassischer Präzision über die Bühne, angetrieben von John Adams’ energiegeladener Partitur „Fearful Symmetries“. Saxophon und Synthesizer sorgen dabei für einen unwiderstehlichen, fast popartigen Sog, während die Farben der großen Wand wechseln, die das Erbe des Vaters – einen leidenschaftlichen Koloristen – lebendig werden lassen.

Orazio Di Bella, Vinícius Vieira, Lucas Erni, Olgert Collaku in Jean-Christophe Maillots „Vers un Pays Sage“. Foto: Altin Kaftira
In diesem Strudel wechseln sich rauschhaft schnelle Gruppenszenen und scheinbar mühelose Hebungen ab, wobei die klassische Tanztechnik immer wieder hervorsticht: fließende Pirouetten, anspruchsvolle Sprungfolgen und geschlossene Linien auf Spitze. Besonders kraftvoll präsentiert sich Skyler Maxey-Wert, der schon im ersten Stück brillierte und hier im Solopaar mit Sophie Martin die beinahe endlose Energie des Abends auf den Punkt bringt. Maillot strukturiert Bilder wie ein Puzzle: Formationen lösen sich auf, verschränken sich diagonal und treffen erneut zusammen, als ginge es darum, die Vitalität seines Vaters in immer neuen Varianten zu feiern. Kurz vor Schluss tritt das Gemälde selbst in Erscheinung und wird zu einer lebendigen Brücke zur Malerei: „Vers un“ (also „hin zu“), in dem die Welt des Vaters nahtlos mit der Bewegung verschmilzt.
So endet dieses „Kaleidoskop“ in einem Ausbruch starker Formationen auf akademisch hohem Niveau, bei denen das Ensemble für so manchen „Wow-Moment“ im Publikum sorgte. Wer die klassische Tanzsprache liebt und zugleich ein Ausgreifen über Grenzen schätzt, findet hier eine eindrucksvolle Verbindung aus Präzision und lebendiger Kreativität.