Das Ensemble sitzt auf der Bühne und blickt sich ratlos an.

Virus sprengt Konsens

Jonathan Spector: Die Nebenwirkungen

Theater:Theater Paderborn, Premiere:14.03.2025 (DE)Regie:Kay Neumann

Am Theater Paderborn inszeniert Kay Neumann Jonathan Spectors Stück „Die Nebenwirkungen“. Angesichts eines Mumps-Ausbruchs an einer Privatschule legen darin eigentlich auf gegenseitigen Respekt und Anstand bedachte Eltern ihre Masken ab. Eine Impfdebatte deckt im Stück verinnerlichte Vorurteile und Intoleranz auf, die bis zu dem Zeitpunkt unter der Oberfläche von scheinheiliger Höflichkeit verborgen blieben.

Vorbildlich das alles. Wenn das Leitungsgremium der unter dem Namen „Eureka“ firmierenden US-Privatschule tagt, benehmen sich dessen Mitglieder, als hätten sie Jürgen Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ vollkommen verinnerlicht. Intersubjektives Geltenlassen waltet, mehr noch: hohe Wertschätzung der anderen Meinung. Sprachsensibel und selbstredend mit Glottisschlag gehen Schulleiter und Elternvertretende aufeinander ein, um für jeden Beschluss Einstimmigkeit zu erzielen.

Zu schön, um wahr zu sein. Jonathan Spector, dessen Stück bereits 2018 entstand, aber erst vier Jahre später am Londoner Old Vic aus der Taufe gehoben wurde und nun in Paderborn seine deutsche Erstaufführung erlebt, deutet beinahe von Anbeginn auf Risse im dünnen Eis des Wohlmeinens und der Achtsamkeit. Zwar hält mit Carina eine pragmatische und weniger an Ideologien und Sprachregelungen als Sachargumenten orientierte Elternvertreterin Einzug ins Leitungsgremium, doch eben deshalb weckt sie bald schon den Verdacht des Mangels an Bildung und Finanzkraft. Unmöglich kann eine Frau wie sie das gesamte Schulgeld selbst aufbringen, „Vollzahlerin“ sein. Latent schwingen dabei überwunden geglaubte Vorurteile wider die afroamerikanische Herkunft Carinas mit.

Offen brechen die bislang weitgehend unter der Decke gehaltenen Konflikte aus, als Schülerinnen und Schüler an Mumps erkranken. Vermeintlich progressiv eingestellte Eltern lehnen die Impfung ihrer Sprösslinge ab, um sie vor den vorgeblichen Machenschaften der Pharmaindustrie und dem Status als deren bloße Versuchskaninchen zu bewahren. Jene Mütter und Väter hingegen, denen die Wirksamkeit des Vakzins als erwiesen gilt, vertrauen auf Carina als Fürsprecherin ihres Anliegens im Schulvorstand.

Auf ganz dünnem Eis

Regisseur Kay Neumann präpariert die Eskalationsstufen im Konflikt von Gegnern der Impfung und ihren Befürwortern in aller Schärfe, Groteske und Bizarrerie heraus. Lange eingeübte und virtuos traktierte Sprach- und Kommunikationsschablonen entlarven sich unter der Todesgeißel des Virusinfekts als ausgekocht instrumentalisierte Worthülsen. Wenn sie nicht gleich über Bord geworfen werden. So läuft denn der eine Videoansprache des Schulleiters zur Seuchenlage und bevorstehenden Schließung kommentierende Chatverlauf völlig aus der Spur.

Unversehens fallen die Hüllen der Wohlanständigkeit. Verfechterinnen und Verfechter eher esoterischer Therapien einerseits und andererseits der Schulmedizin attackieren sich verbal bis auf’s Messer. Private Konflikte vergiften das Klima zusätzlich. Bis hin zu den – gegenwärtig allfälligen – Nazivorwürfen. Eigentlich eine Lachnummer, wenn da nicht das an der Schule grassierende tödliche Virus wäre. Spielleiter Neumann eröffnet dem existentiellen Ernst der Lage wenig später gebührenden Raum, wenn er den Zwist zwischen der für den bislang herrschenden Diskurs mit allen Wassern gewaschenen Suzanne und der realistisch-toughen Carina zum ragenden Disput aufwachsen lässt.

Fast gerät auf diesem Punkt das well-made-play zum Königinnendrama. Neumann kann dabei auf famose Spielerinnen und Spieler bauen. Bei Kirsten Potthoff firmiert Suzanne lange als Ausbund an Empathie und Wohlmeinen. Indessen tarnt die Schulvorständin unter dieser Maske knallharte Positionen. Ihren menschlich zugewandten und den Tatsachen ins Auge blickenden Widerpart Carina verkörpert Azizè Flittner mit der Figur trefflich anstehender Wachheit und Durchsetzungsfähigkeit. Claudia Sutter weiß für die beständig strickende und die Argumente wägende Meiko einzunehmen.

Ins Gemüt greift David Lukowczyk, wenn er den in Angelegenheiten der Schule immer spendablen Eli aus der Leitungssitzung ans Krankenbett seines infizierten Kindes eilen und im neuen Kontext auch die Vorzüge von Ehe und Familie wiederentdecken lässt. Wie Schulleiter Don über ideologisches Glatteis schlingert, ist an Alexander Wilß zu beobachten. Für sie alle stellt Monika Frenz eine Kombination aus Schulbibliothek und Aula auf die Bühne, in der statt Gestühl asymmetrische Stufen Sitzgelegenheit gewähren. Die Personnage steckt Frenz in Trendiges für die alternativ angehauchte upper middle class.

Übrigens erweist sich die beargwöhnte Carina als „Vollzahlerin“.