„Die Norm kennt jeder, das langweilt das Publikum“

Inklusives Theater bedeutet mehr als Darsteller:innen mit Beeinträchtigung auf die Bühne zu bringen. Die Offenheit ist eine Chance. Im Heft-Schwerpunkt „Praxis-Check: Inklusion” porträtieren wir den Schauspieler Max Edgar Freitag vom Theater Thikwa in Berlin.

aus Heft 02/2025 zum Schwerpunkt »Praxis-Check: Inklusion«

Max Edgar Freitag ist Ensemblemitglied am Theater Thikwa in Berlin, diesen Sommer inszeniert er sein erstes eigenes Stück. Wer das kreative Multitalent besucht, stellt sich viele Fragen, vor allem, welche Vorstellungen wir von Menschen mit Behinderung haben. Ein Porträt.

Max Edgar Freitag ist ein Philosoph. Ständig sagt er Sätze, die man mitschreiben möchte, um später unbedingt noch darüber nachzudenken. Zum Beispiel: „Wenn man seinen größten Feind kennt, kann man sich mit ihm versöhnen, auch wenn es das eigene Leben ist.“ Oder „Dramaturgie ist eine Schäferhund-Arbeit: sitzen und gucken.“ Oder einfach: „Der Körper ist eine Batterie, die man aufladen muss!“ Wenn er dann im Gespräch den Unterschied zwischen positivem Denken und Selbstakzeptanz erklärt oder warum alles, was der Mensch tut, intuitiv aus Angst oder Überlebenswillen geschieht – dann fragt man sich, wer hier eine Einschränkung hat. Welche Vorstellung unsere Gesellschaft von Menschen mit Behinderung hat. Und was Normalsein oder normal denken überhaupt sein soll.

Max Freitag ist einer von 41 Performern und Performerinnen mit Behinderung am inklusiven Theater Thikwa in Berlin. Aber wenn er im aktuellen Thikwa-Stück „play boys – Die schönsten Männer der Welt“ dem Publikum erklärt, warum der Tod ein freundlicher Typ ist, ein wildes Solo tanzt oder nach der Applausordnung ein flammendes Plädoyer für den Erhalt der Kulturszene und gegen die aktuellen Kürzungen hält, dann zerfließt der Begriff „Behinderung“. Was bedeutet ihm dieses Wort überhaupt?

„Die Gesellschaft hat daraus ein großes Wort gemacht. Ich bin damit aufgewachsen, hab mir die Behinderung nicht gekauft, sondern sie in die Wiege gelegt bekommen.“ Wie selbstverständlich er damit umgeht, mit großer Klarheit darüber spricht und gleich wieder zum nächsten Thema wechselt, das ist bewundernswert. So dreht sich unser Gespräch vor allem um seine Liebe zum Theater, um Ostberlin („Man sagt ja, im Westen ist es am besten, aber ich bleib lieber im Osten.“), um Sinn und Demut voreinander, ums Gendern und das Verhalten des Menschen als Rudeltier.

Textlernen als Berufung

Vor 15 Jahren kam Max Edgar Freitag zum Thikwa, hatte zuvor eine Reihe von Praktika absolviert: in der Altenpflege, im Kindergarten, in einer Hundeschule. Dass er Schauspieler werden muss, hatte ihm eine Lehrerin schon als Neunjährigem attestiert. „Wir haben damals im FEZ-Berlin die ,Vogelhochzeit‘ gespielt, und ich konnte meine Texte so schnell auswendig, dass ich die der anderen aus Langeweile mitgelernt habe. Dann wollte ich meine Lehrerin überzeugen, es würde doch schneller gehen, wenn ich allein rausgehe und alle Texte spreche.“

Als er sich dann Jahre später mit seiner Mutter gemeinsam das Thikwa ansieht, wird die Begabung zum Beruf. Es folgt ein zweiwöchiges Praktikum, das alle Thikwas (so nennen sich die Ensemblemitglieder) durchlaufen: Für die Aufnahme ist nicht nur eine Werkstattberechtigung nötig, auch muss man sich auf das zweigeteilte System einlassen: von 10 bis 15:30 Uhr die Arbeit in der Thikwa Werkstatt für Theater und Kunst – und der Spielbetrieb am Theater. Wer in einem Stück besetzt ist und gerade probt, ist in der Werkstatt befreit. Die anderen beschäftigen sich dort mit Malerei, Grafik, Holzbildhauerei oder absolvieren Trainings in Schauspiel, Musik und Tanz.

Zeichnen als Leidenschaft

Seine Liebe zum Zeichnen hat Max Edgar Freitag erst am Thikwa entdeckt. Anfangs war ihm die Schauspielerei wichtiger, mittlerweile ist er gern im Atelier, zeichnet mit Bleistift und Aquarellstiften am liebsten Disney-Figuren. Seine Bilder und die der anderen Thikwas hängen im Theaterfoyer, das man sich mit dem English Theatre Berlin teilt: Seit 2006 betreiben beide die gemeinsame Spielstätte in den Mühlenhaupt-Höfen. Damals entstand hier das erste komplett barrierefreie Theater Deutschlands.

Und wer kommt in diesen idyllischen Hinterhof? „Wir haben Standardgänger und neue Leute, jeder ist willkommen“, erzählt Max Edgar Freitag. „Das Berliner Publikum ist diverser, als wir es sind! Da ist alles und nix besonders, da kann jeder Vogel auftauchen.“ Wir lachen beide und landen wieder beim Thema Normalität. „Die Norm kennt jeder, das langweilt das Publikum, die brauchen was Verrücktes!“ Man könne normal studieren, malen nach Zahlen und einen auf Til Schweiger machen. „Aber man kann auch in einer anderen Haut geboren sein.“ Und wenn es schwierig wird, seien Leute da, die helfen. So wie Silke Stuck vom Künstlerischen Betriebsbüro, die beim Interview dabei ist, oder die Künstlerischen Leiterinnen Nicole Hummel und Laura Besch.

„play boys“: Eine Frau spielen und den Tod erklären

Zwei große Ziele wird Max Edgar Freitag in dieser Spielzeit verwirklichen, die er schon vor Jahren mal formuliert hatte: selbst Regie führen und auf der Bühne eine Frau spielen. In „play boys“ tut er Letzteres gemeinsam mit seinen Ensemblekollegen Louis Edler, Stephan Sauerbier, Christian Wollert und Peter Cora Frost, der auch Regie geführt hat. In szenischen Miniaturen verhandeln die Performer das Thema Männlichkeit oder Frausein-Wollen, in sehr persönlichen Texten über ulkige Geschlechterklischees oder in Interaktion mit dem Publikum.

Während Christian Wollert live Rühreier brät (Liebe geht bekanntlich durch den Magen), verteilt Max Edgar Freitag locker plaudernd Getränkedosen ans Publikum, erzählt von Vaterfiguren und dem Tod, der im Französischen weiblich, im Deutschen männlich ist und im Englischen gar kein Geschlecht hat. Eigentlich sei der doch ein netter Kerl (Skelette lächeln immer!) und nimmt alle auf, im Gegensatz zu Gott, der nur die „Guten“ in den Himmel lässt.

Während der Schauspieler hier sehr philosophisch und mit herrlich trockenem Humor auftritt, wirkt er später – umgezogen in ein hellblaues, langes Kleid – zerbrechlich und feminin. Zum Disney-Song „Let It Go“ aus „Die Eiskönigin“ betritt er seitlich die Bühne, vorsichtig erst, dann immer energischer sich drehend, als tanze er um sein Leben. „Ich schätze die Körperarbeit immer mehr, wie viel Gefühle man durch Bewegung vermitteln kann. Mein Kollege André Nittel, im Rollstuhl, kann dem Publikum mit einem Blick mehr sagen als mancher, der den ganzen Abend auf der Bühne redet.“

Max Edgar Freitag beim Covershooting im Bühnenbild zu „play boys”. Foto: Tobias Kruse

Den Tod als Kumpel zeigen

Das zweite Ziel, die eigene Regie, wird im Sommer über die Thikwa-Bühne gehen. Zusammen mit Tobias Brunwinkel hat Max Edgar Freitag sein erstes eigenes Stück entwickelt: „Der Tod“. „Wir wollen den Tod geschmackvoll zeigen, als Kumpel, der dazugehört. Und dass er eine arme Sau ist: Muss immer arbeiten und wird noch gehasst dafür.“ Für die Regiearbeit mussten beide ein Konzept einreichen, das dann von einer externen Jury ausgewählt wurde. Die Proben beginnen im April. Ob er aufgeregt ist? „Nein. Ich freue mich auf meine Art und Weise und versuche, möglichst professionell an die Sache heranzugehen“, erzählt er. Als Dramaturg hat er schon bei „BUMM, KRACH, BOING!“ mitgewirkt, das im Sommer 2024 als Kooperation mit dem GRIPS Theater Premiere hatte. Letztlich sind alle Stücke des Thikwa gemeinsame Entwicklungen mit den Perfomer:innen. Mit denen kommt Max Edgar Freitag gut aus: „Bei uns gibt es kein Mobbing. Menschen sind ja Rudeltiere, wir schließen keinen aus.“

Schön wäre mal ein „echter” Forrest Gump

Auch Erfahrungen im Film hat der 37-Jährige gemacht, wird durch die Agentur Rollenfang vermittelt. „Film ist eine andere Form von Arbeit, fühlt sich strikter an, die Konzentration vor der Kamera ist höher.“ Doch wie bei allen Schauspielern kommen Anfragen oft kurzfristig, sind schwer mit dem Spielbetrieb zu vereinbaren, erzählt Silke Stuck. „Schön wäre, wenn wir irgendwann mal keinen Tom Hanks als Forrest Gump haben, sondern einen echten Forrest Gump. Und nicht Til Schweiger im Rollstuhl sitzt, sondern ein Schauspieler, der auch sonst im Rollstuhl sitzt“, wünscht sich Max Edgar Freitag.

Bis es so weit ist, arbeitet er an den eigenen Schauspielkompetenzen – und ist dafür seit eineinhalb Jahren in der Klasse von Professor Enrico Stolzenburg an der Universität der Künste Berlin: als Meisterschüler, ohne Studierendenstatus oder Immatrikulation. Formal gesehen ist das ein Praktikum. „Wir haben großes Interesse daran, auch Studierende ohne Abitur aufzunehmen und grundsätzlich diverser zu werden. Die einzige Bedingung für die Aufnahme ist eine hohe künstlerische Begabung“, erklärt Stolzenburg, der Max Edgar Freitag seit einem gemeinsamen Projekt mit dem RambaZamba Theater kennt. Problematisch sei eben, dass sich die universitären Strukturen zu langsam ändern lassen. Deshalb engagiert sich Stolzenburg im Akademischen Senat der UdK Berlin und hat bei Max Edgar Freitag pragmatisch entschieden: Sein besonderer Student erhält Szenenstudium wie die anderen, nimmt in seinem Tempo und soweit es der Thikwa-Spielbetrieb zulässt, am Unterricht teil. Die Reaktion seiner Studierenden war vor allem Neugier. Und die Erkenntnis: „Wir sind zu brav, zu langweilig und müssen uns mehr trauen.“

In den nächsten Monaten wird Max Edgar Freitag aussetzen an der UdK, das erste eigene Stück wird ihn zeitlich genug fordern. Ob er sich vorstellen könne, irgendwann an ein anderes Theater zu gehen? „Alles ist möglich. Mein Ziel ist, durch mein Spiel Leuten mit Einschränkung zu helfen, dass sie mehr gesehen werden. Damit es die nach mir mal leichter haben.“ Da spricht einer, der etwas verändern will durch seine Kunst, in den Austausch gehen, und zwar mit einer Offenheit, von der man viel lernen kann. „Ich versuche immer, neutral an die Sachen heranzugehen, dialektische Fragen interessieren mich. Es gibt immer zwei Seiten.“ Da ist er wieder, der Philosoph.

Das Covershooting in den Mühlenhaupt-Höfen am Theater Thikwa. Foto: Tobias Kruse


Dieser Artikel ist erschienen in Heft 2/2025 der Deutschen Bühne.