Claire Cunningham mit Krücken in Luftakrobatik auf Tassen in der Produktion „Guide Gods“

Persönliche Evolution

Die schottische Choreografin und Tänzerin Claire Cunningham nutzt ihre Krücken für außergewöhnliche Performances und als Plädoyer für eine Zukunft mit körperlicher Vielfalt. Dafür erhält sie den Deutschen Tanzpreis 2021 für herausragende künstlerische Entwicklung.

Wenn Claire Cunningham in die USA einreist und die Frage nach dem Grund ihres Aufenthalts mit „Ich bin Tänzerin“ beantwortet, erntet sie merkwürdige Blicke. Aber das passiert ihr auch im Alltag zu Hause in Schottland, wenn sie mit ihren Krücken unterwegs ist. „Behinderte Menschen werden oft angestarrt“, sagt die Künstlerin, mal offen, mitunter verschämt oder peinlich berührt. Genau das hat die tanzende Choreografin zum Thema eines ganzen Abends gemacht: „The Way You Look (at me) Tonight“ ist ein Dialog zwischen ihr und dem US-amerikanischen Choreografen und Performer Jess Curtis. Singend, tanzend, fragend und erzählend begegnen sich hier Mann und Frau auf unterschiedlichsten Ebenen.

Aus dem Duett ergeben sich immer wieder Kontakte mit dem Publikum, das ebenfalls im Bühnenraum sitzt. Bei dieser Aufführung konnte Claire Cunningham verwirklichen, was ihr in gängigen Theatern oft fehlt: wirklich jeden willkommen zu heißen! Barrierefreiheit ist ein Muss, Sehbehinderte bekommen eine Audiodeskription, und der gesprochene Text wird auf eine Leinwand projiziert. „Ein Theaterbesuch ist meist an die Einhaltung von Formalien gebunden und erwartet ganz bestimmte Körper, denen das möglich ist. Ich möchte gern Orte schaffen, wo man nicht mehrere Stunden aufrecht sitzen muss und die man verlassen darf, falls es nötig sein sollte – aus welchem Grund auch immer“, so Cunningham. Sie macht sich viele Gedanken über ihr Publikum, für das sie unbedingt Verantwortung übernehmen möchte. Sie selbst hat es oft genug anders erlebt.

1977 im schottischen Kilmarnock geboren, war Claires Berufswunsch früh klar: Sängerin wollte sie werden. Diesem Ziel standen weder ihre Krankheit im Weg noch die Tatsache, dass sie seit ihrem 14. Lebensjahr auf Krücken angewiesen ist. An der University of York in England absolviert sie ein Musikstudium, im Rahmen der klassischen Gesangsausbildung schätzt sie insbesondere deutsche Lieder des 19. Jahrhunderts mit der typischen intimen und poetischen Atmosphäre. „Doch nach dem Studium wusste ich nicht, wie ich einen Job bekommen sollte. Bald merkte ich: Man muss die richtigen Leute kennen – aber ich kannte sie nicht!“ 

Schauspiel und Luftakrobatik

Zurück in Schottland, engagiert sie die Musiktheatertruppe Sounds of Progress als Sängerin und Darstellerin. Dort steht sie nicht nur auf der Bühne, sondern lernt auch die Organisation eines Künstlerensembles kennen: Anträge stellen, Budgets verwalten, Workshops durchführen und, fast nebenbei, ein neues Stück entwickeln. „Ich ahnte nicht, wie wichtig das einmal für mich sein würde“, sagt Cunningham rückblickend und lacht. Sie verlässt die Gruppe, als die Verwaltungsaufgaben überhandnehmen; nach sechs Jahren braucht sie eine neue Herausforderung. Sie nimmt Unterricht in Schauspiel und Aerial Training, Luftakrobatik. „Durch das Gehen mit Krücken hatte ich viel Kraft im Oberkörper und im Rücken, die wollte ich gern nutzen.“ An Tanz denkt sie noch nicht. Tatsächlich gibt es in England eine Truppe, die sich auf Luftakrobatik und Tanz mit behinderten und nichtbehinderten Darstellern spezialisiert hat, die Blue Eyed Soul Dance Company. Jahre vor den Paralympics war das fortschrittlich, niemand machte damals etwas Vergleichbares.

„Ich war eine der wenigen im ganzen Land, die mit Aerial Training Erfahrung hatten. Ich ging zur Audition – und wurde als Tänzerin engagiert!“ Zunächst weigert sie sich kategorisch, zu tanzen, doch es gelingt dem Choreografen Jess Curtis, -Claire behutsam zum Tanzen zu bringen. Bei Beginn einer Probe lässt sie ihre Krücken an der Seite, denn sie kann sich nicht vorstellen, wie Gehhilfen mit Tanz vereinbar sein könnten. In den Pausen aber nutzt sie beide Krücken als Sitzplatz, balanciert mit ihnen und zeigt kleine Tricks, die sie sich angewöhnt hat. Genau das gefällt Curtis, und er ermutigt Claire zu weiteren Spielereien. Mehr noch, er nimmt sie als Anfangssequenz in die Choreografie auf. „Jess interessierte sich nicht nur für meine Bewegungen, sondern ihm gelang es, mich dafür zu interessieren.“ 

Wieder zu Hause, setzt Claire die spielerische Erkundung neuer Möglichkeiten mit den vertrauten Krücken fort. Und dann unterstützt der Zufall: Ausgerechnet Bill Shannon gibt in ihrer Nähe einen Workshop – der US-amerikanische Tänzer zeigt akrobatischen Hip-Hop und Skateboarding auf Krücken. Auch er motiviert sie, und so beantragt Claire eine staatliche finanzielle Förderung, die (normalerweise etablierten) Künstlern gewährt wird, um von einem Genre ins andere zu wechseln. Die ausgebildete Sängerin Claire erhält 30 000 Pfund, um sich ab 2005 den Tanz erobern zu können. Damit finanziert sie mehrere Wochen Einzelunterricht bei Bill Shannon in den USA und individuelles Training mit professionellen Tänzerinnen in Schottland.

Künstlerische Konsequenz

Über viele Jahre hatten Ärzte und Physiotherapeuten ihr geraten, die Grenzen ihres Körpers zu akzeptieren und Schmerz zu vermeiden. Nun erfährt sie eine neue Art von Schmerz, die genau das bewirkt, was unmöglich schien: die gründliche Erweiterung ihrer Grenzen. „Ich wusste nicht, dass ein Dehnen der Beine auch für professionelle Tänzer schmerzhaft ist!“

Ihre erste Choreografie entsteht 2007 und erzählt von ihrer persönlichen „Evolution“. Das 20-minütige Solo zeigt sie im selben Jahr auf dem Dublin Fringe Festival, es ist das „vermutlich tänzerischste Stück, das ich je gemacht habe“, lacht Cunningham. Auch das nächste Werk trägt autobiografische Züge: Während der Entstehung von „Mobile“ macht sie 2008 jemand darauf aufmerksam, dass sie nicht immer auf den Boden schauen darf – das Publikum wolle ein Gesicht sehen. In ihrem bisherigen Leben jedoch war der prüfende Blick auf die nächsten vor ihr liegenden Meter unverzichtbar.

Behinderung ist – nach buddhistischer Lehre – eine Folge von eigenem Verhalten in einem früheren Leben: Karma. Um sich mit dieser ihr fremden Haltung auseinanderzusetzen, reist Claire Cunningham nach Kambodscha. Das Ergebnis fließt 2014 in die außergewöhnliche Performance „Guide Gods“ ein, die Zuschauer nach der Vorstellung bei Tee zusammenführt. „Früher habe ich oft erlebt, wie Bühnenstücke als reiner Selbstzweck entstanden; dass es darum geht, Menschen damit zu erreichen, geriet in Vergessenheit.“ Das macht Claire Cunningham in ihrer Arbeit grundlegend anders. Humor nutzt sie dabei als Katalysator. „Humor verbindet Menschen sehr schnell miteinander.“ Das bestätigt auch die Jury, die ihr 2021 den Deutschen Tanzpreis verleiht: „Das Wirken von Claire Cunningham steht beispielhaft für die Arbeit weiterer Wegbereiter:innen in eine Zukunft mit körperlicher Vielfalt im Tanz und in der Gesellschaft. Diese Entwicklung, die in Deutschland dringend mehr Förderung und Wertschätzung bedarf, kurbelt Claire Cunningham mit beeindruckender Bühnenpräsenz, künstlerischer Konsequenz und Humor weiter an.“

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 10/2021.