Porträt Samuel Koch

„Wir müssen alle mutiger werden!“

Der Schauspieler Samuel Koch ist seit einem Unfall querschnittgelähmt. Alltag wie Arbeit sind für ihn ungemein komplexer als für seine gesunden Kolleg:innen. Er will trotzdem zeigen, was er kann; will, dass auf der Bühne seine Qualitäten sichtbar werden, nicht seine Mängel. Im Theater und überall anders hofft er auf mehr Begegnung und Kommunikation, um Unsicherheiten und Ängste abzubauen.

München, Anfang März 2024. Ich bin mit Samuel Koch in seiner Garderobe in den Münchner Kammerspielen verabredet. Drei Stunden vor der Vorstellung des Ensemble-Tanzstückes „In Ordnung“ von Doris Uhlich. Gemeinsam mit 15 Kolleg:innen spielt Samuel hier in einem inklusiven Ensemble, darunter auch Schauspieler:innen mit kognitiver Beeinträchtigung. Samuel Koch ist querschnittgelähmt. 2010 stürzte er in der Fernsehshow „Wetten, dass..?“ bei einem Sprung über ein fahrendes Auto kopfüber auf den Boden, brach sich mehrere Halswirbel. Was damals kaum jemand wusste: Samuel war nicht nur Profiturner, er hatte ein paar Monate vor seinem Unfall ein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover begonnen. Nach einer einjährigen Pause nahm er dieses 2011 wieder auf, machte 2014 seinen Abschluss und wurde Ensemblemitglied am Staatstheater Darmstadt, später am Nationaltheater Mannheim.

Was es in aller Konsequenz bedeutet, in seinem Zustand auf einer Bühne zu performen, können sich die wenigsten vorstellen. Als die Münchner Kammerspiele im Januar 2024 das Festival All Abled Arts veranstalteten, sagte Samuel im Rahmen einer Podiumsdiskussion zur Frage „Wie inklusiv kann Theater sein?“, dass er sich mehr Transparenz, Wissen und Empathie wünsche. Verständnis sei der erste Schritt zu Offenheit und Zugänglichkeit. Als ich ihn anschließend gefragt habe, ob er mit mir darüber reden wolle, wie es ihm geht im Theater und auf der Bühne, hat er gleich zugesagt.

In Samuels Garderobe

Als wir uns treffen, ist Samuel angeschlagen. Er hat einen langen Flug und die Autofahrt nach München hinter sich. Er liegt auf der Liege in der Garderobe, während ein paar Techniker seinen Rollstuhl für die Vorstellung aufrüsten. Sie bringen die Halterung für das Rollbrett an, auf dem Samuel später Kolleg:innen mitnehmen wird auf der Bühne, und schrauben einen Bogen aus Stahl ans Fußteil, den sie „Rammbock“ nennen. Er soll verhindern, dass er sich bei einer seiner rasanten Fahrten und den Kollisionen mit den Bühnenbildelementen die Zehen bricht. Samuel hat immer jemanden aus seinem siebenköpfigen Team dabei; heute ist es Jakob, der ihn vor der Vorstellung durchbewegt, seine Muskeln dehnt. Eine aufwendige Prozedur, die für Samuel tägliches Ritual ist. Training, damit sein Zustand bleibt, wie er ist, sich vielleicht sogar verbessert. Er macht das „so oft wie möglich“, mehrmals am Tag. Wo immer er ist und auftritt.

Ich fühle mich ein wenig wie ein Eindringling in eine zu persönliche Sphäre. Doch Samuel sagt, ich solle mir einfach einen der Stühle nehmen und mich zu ihm setzen. Da das Thema sensibel ist, bitte ich ihn zu sagen, wenn ihm eine Frage zu persönlich ist. Er aber legt kein einziges Veto ein, denkt über jede Frage nach, nähert sich im Erzählen dem Kern der Sache.

Das Ensemble-Tanzstück „In Ordnung“ von Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen

Das Ensemble-Tanzstück „In Ordnung“ von Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen. Foto: Julian Baumann

Denkmalschutz vor Menschenschutz?

Für einen Rollstuhlfahrer beginnt die Herausforderung lange vor der Vorstellung, konkret nämlich damit, wie er überhaupt bis zur Bühne kommt. Die Kammerspiele sind ein altes, denkmalgeschütztes Haus. Als das Schauspielhaus 1900 gebaut wurde, dachte niemand an Barrierefreiheit. Samuel formuliert es etwas drastischer: „Damals wollte man Rollstuhlfahrer:innen, glaube ich, gar nicht in der Öffentlichkeit sehen.“

 Das Gebäude ist verwinkelt, voller Stufen und anderer Hindernisse. Für Samuel heißt das: Um auf die Bühne zu kommen, muss er die Wege benutzen, über die auch die Bühnenbild-elemente transportiert werden. Im Tanzstück „In Ordnung“ verlassen die Spieler:innen die Bühne, sind auch im Zuschauerraum unterwegs. Damit Samuel dorthin kommt, mussten Schreinerei und Schlosserei kreativ werden, den Weg über den Hof ins Foyer möglichst störungsfrei für ihn befahrbar machen. Der direkte Weg durch eine Tür an der Garderobe wäre ungefähr 20 Meter lang, Samuel muss eine deutlich längere Strecke zurücklegen, erst raus aus dem Gebäude, an anderer Stelle wieder hinein. „Manchmal steht Denk-malschutz vor Menschenschutz“, sagt er. „Ich nehme unser Land auch manchmal als eines wahr, in dem es mehr Vorschrift gibt als Fortschritt.“

Neuanfang

Samuel war vor seinem Unfall jahrelang Kunstturner in internationalen Ligen. „Die Schauspielerei hat mich gekitzelt, weil das ein bewegungsreiches Studium ist mit Akrobatik, Reiten und Fechten“, erzählt er. „Durch meinen Unfall sind alle diese Hauptgründe erst mal weggefallen.“ Er war erst ein paar Monate an der Schauspielschule. Dass er weitergemacht hat, verdankt er seinem Professor und Mentor Jan Konieczny. Der hat ihn nach dem Unfall in der Rehaklinik besucht. Samuel saß damals die ersten Male im Rollstuhl, das Loch in seinem Hals von der Beatmung war noch nicht ganz zugewachsen. „Er hat den Rollstuhl gar nicht gesehen, ist mit mir auf so eine kleine Bühne in der Klinik und hat mit mir da weitergemacht, wo wir aufgehört hatten. Wir haben Dylan Thomas’ Stück ,Unter dem Milchwald‘ gemacht, Textarbeit, ohne Gnade“, so Samuel. „Wo alle anderen nur betroffen waren, hat er mir gezeigt: Wir haben dich nicht nur wegen deines Körpers genommen, sondern auch wegen deiner Kreativität und Fantasie.“

Nach einem Jahr kam Samuel zurück an die Schauspielschule. Im Akrobatikkurs fing er an, die anderen zu trainieren, schließlich hatte er einen Trainerschein. „Als ich an der Schauspielschule angefangen hatte, war ich etwas hochmütig entsetzt, wie unbeweglich die anderen waren. Ein paar Monate später kam ich selbst komplett unbeweglich zurück“, sagt er im Rückblick. Er war voller Zweifel. Inklusion im Stadttheater, das gab es damals, 2011, noch nicht. Einen Schauspieler im Rollstuhl hatte er noch nie auf der Bühne gesehen. Er besuchte parallel Veranstaltungen in Kommunikationswissenschaft, hatte wenig Zuversicht. Irgendwann inszenierte Konieczny mit seinen Student:innen „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow. Samuel spielte den Veteran und Militärarzt Iwan Romanowitsch Tschebutykin. Die Aufführungen wurden ein voller Erfolg. „Viele fanden es eine coole Setzung, den Veteran in den Rollstuhl zu setzen, und haben erst beim Applaus gemerkt, dass ich wirklich gelähmt bin. Wir haben von einer internationalen Jury, die mit meiner Person gar nichts anfangen konnte, einen Preis beim Schauspielschultreffen bekommen. Das war ein bisschen der Wendepunkt.“

Trotzdem gibt es natürlich bis heute Momente, in denen es schmerzt. „Gerade habe ich ein Stück gesehen, wo in den Bühnenboden ein Riesentrampolin eingebaut worden war. Da habe ich dann schon im Kopf, was da alles möglich wäre“, erzählt Samuel, und in diesem Moment hört man ihm die Wehmut an. „Im Bühnenboden rumhüpfen, Doppelsalto, Dreifachsalto, Schrauben … Da könnte man die Leute wirklich zum Staunen bringen.“

Mut zum Risiko

Im Oktober 2023 hatte er am Berliner Theater RambaZamba in einer Inszenierung von Leander Haußmann Premiere: „Läuft!“. Da wurde die Risikobereitschaft spürbar, die Samuel noch immer in sich trägt. Er rast in seinem Rollstuhl in einem Tempo über die Bühne, dass einem beim Zuschauen schwindelig zumute wird, rammt Requisiten und Bühnenelemente, bis kein Halten mehr ist. Aus dem Off singen die Rolling Stones immer wieder ihre lebensweise und schmerzliche Hymne „You Can’t Always Get What You Want“. In einem ruhigen Moment erzählt Samuel auf der Bühne, wie er von einer Reise nach Italien geträumt hat, am Ende aber in Holland landete. Manchmal ist das Leben anders als erwartet. Manchmal ist es wie der Traum von einer Reise nach Italien, die in Holland strandet. Aber: „Wenn du dein Leben damit verbringst, darüber zu trauern, dass du nicht in Italien gelandet bist, wirst du nie die ganz eigene besondere Schönheit von Holland genießen werden.“

Jede Theaterinszenierung beginnt mit denselben Fragen: Wie erzählen wir eine Geschichte, und was erzählen wir? Für Regisseur:innen, die mit Samuel arbeiten, stellt sich noch eine andere Frage: Wie gehen wir mit seinem bewegungslosen Körper um? Wie alle Schauspieler:innen bringt er seinen privaten Körper mit auf die Bühne, verwandelt ihn in einen Kunst-Körper, stellt ihn in den Dienst der je-weiligen Inszenierung. Als er in Darmstadt den „Prinz Friedrich von Homburg“ spielte, thronte er als erstarrtes Monument seiner selbst auf einem Pferd aus Gips. „Erst am Ende, wenn Homburg seine wahrhaftige Autonomie findet, darf er in den Rollstuhl“, erzählt Samuel.

Mit seinem Kommilitonen Robert Lang-Vogel entwickelte er am Ende des Studiums für sein Vorspiel ein ganz neues Bewegungskonzept: Er ließ sich an den Körper seines Kollegen schnallen, sich von ihm bewegen wie eine menschliche Marionette. Sie spielten Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ über die Menschwerdung eines Affen, was „faszinierend zu diesem Konzept gepasst hat“, wie Samuel findet. Gemeinsam mit Oliver Brunner, dem damaligen Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt, entwickelte er diese Idee weiter. In der „Faust“-Inszenierung von Bettina Bruinier wurde die unselige Allianz zwischen Faust und Mephisto körperlich, die beiden verschmolzen zu einem Doppelwesen: Robert Lang-Vogel schnallte sich als Mephisto diesen bewegungsunfähigen Faust, den Samuel spielte, an den Körper, erfüllte ihm so seinen Wunsch, sich wieder jung zu fühlen, wieder springen und tanzen zu können. Natürlich gehört da „ein gehöriges Vertrauen“ dazu, betont Samuel: „Wenn der stolpert und umfällt, knalle ich direkt auf die Nase und er auf mich drauf.“

Samuel Koch als Faust am Staatstheater Darmstadt

Samuel Koch als Faust am Staatstheater Darmstadt. Foto: Wil van Iersel

Das Unmögliche möglich machen

Samuel will nicht, dass die Leute seine Performance „super dafür, dass er eine Behinderung hat“ finden, er will kein Mitleid, sondern Überwältigung: „Ich will erreichen, dass sie staunend rausgehen. Weil ich glaube, dass Staunen ein Kopföffner sein kann.“ Dann kann sich auch allmählich eine neue Sehgewohnheit einstellen, wie er sie in Darmstadt erlebt hat. Da hat er jahrelang „die abgefahrensten Sachen“ gemacht auf der Bühne. Und das Publikum hat seine Unsicherheit verloren. Inzwischen weiß er, dass das scheinbar Unmögliche nicht nur möglich, sondern oft sogar bereichernd ist: „Bei jedem Theaterstück sind wir zu Beginn ein bisschen ratlos und wissen nicht, wie wir Lösungen finden. Aber jedes Mal finden wir eine. Und das ist eigentlich eine ganz wunderbare Erfahrung fürs Leben.“

In solchen Momenten vergisst man beinahe, wie schwer behindert er tatsächlich ist. Sein unterster Halswirbel musste entfernt werden, der oberste war komplex gebrochen: eine Verletzung, die bisher seines Wissens nur sieben Menschen auf der Welt überlebt haben. Samuel braucht 24-Stunden-Unterstützung, die er in Teilen selbst finanziert. Neben seiner Leidenschaft, der Schauspielerei, hält er deshalb unter anderem Vorträge in Firmen zu Themen wie Krisenbewältigung oder Resilienz. Wenn es regnet und Tropfen auf seine Hand fallen, spannen sich seine Muskeln unkontrolliert an, weshalb er bei schlechtem Wetter aufs Auto angewiesen ist. Es gibt unzählige solcher Beispiele und Hürden, die einem gesunden Menschen gar nicht bewusst sind. „Ich würde mir wünschen, dass wir uns mehr begegnen und miteinander sprechen, um diese Unsicherheiten oder Ängste gemeinsam abzubauen“, sagt Samuel.

Qualitäten statt Mängel

Wenn sein Kollege Ulrich Matthes ihm nach einem Gastspiel am Deutschen Theater in Berlin mit dem Abend „Wounds Are Forever“ sagt, dass er seiner Stimme nicht angemerkt habe, dass er im Rollstuhl sitzt, freut ihn das sehr. Da Samuel kaum Zwischenrippenmuskulatur hat, muss er alles mit dem Zwerchfell kompensieren, sein Stimmvolumen komplett aus dem Bauch holen – und intensiver an seiner Stimme arbeiten als andere. Vom Theater wünscht er sich darum zu Recht, dass Können und Handwerk gezeigt, nicht Mängel ausgestellt werden. „Jede:r hat wunderbare Qualitäten, die man zeigen kann. Das ist die Aufgabe des Apparats und der Regie. Da muss man mehr kommunizieren und sich einfühlen. Sonst hinkt das Theater dem Geist der Zeit hinterher, obwohl es eigentlich Vorbild sein könnte für die Gesellschaft. Es könnte ein Ort sein, wo wir Dinge vorspielen, vortanzen und vorleben.“

Die Utopie, dass aus Einzelkämpfer:innen eine Gemeinschaft erwächst, in der die Einzelnen einander stark machen, ist nicht die schlechteste. Im Tanzstück „In Ordnung“ fasst Doris Uhlich diese in ein einprägsames Schlussbild. Seine Kolleg:innen heben Samuel auf eins der Podeste, gruppieren sich um ihn. „Ich will noch nicht gehen“, sagt er. „Ich will noch ein bisschen tanzen.“ Es wird ruhiger bei diesen ersten und einzigen Sätzen, die an diesem Abend gesprochen werden. Am Ende hört man nur noch das gemeinsame Atmen nach der Anstrengung. Sie haben sich gefunden als Gruppe. In ihrer Verschiedenheit. Weil sie etwas gewagt haben. Samuel hat recht, wenn er sagt: „Wir müssen alle mutiger werden, auch im Theater.“

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 18 der jungen bühne.