Oberhausen tanzt aus der Reihe
Foto: Das Ensemble von Urban Arts: Beckley Adeoye, Joseph Louis Sitti, William Hayibor Venous, David Wilfried Mayinga, Laëlle Makazu und Siryel Elina Chtioui (v. l. n. r.) © Dana Schmidt Text:Ulrike Kolter, am 15. Januar 2024
Urban Arts heißt die neu gegründete Tanzsparte am Theater Oberhausen. Freie Tanzstile wie Krumping stehen im Zentrum, dazu gibt es offene Tanzangebote. Das spricht die riesige urbane Szene in NRW an – und holt Jugendliche ins Haus, die noch nie im Theater waren.
Bisher hatten Krumping und Stadttheater nicht besonders viel gemeinsam. Das ändert sich gerade – und zwar am Theater Oberhausen, das seit letzter Spielzeit von Kathrin Mädler geleitet wird. Anschubfinanziert durch das Förderprogramm „Neue Wege“ hat das Einspartenhaus wieder eine Tanzsparte installiert: Urban Arts heißt sie und ist ein deutschlandweit einzigartiges stilistisches Experiment.
Krumping ist ein aus Los Angeles stammender Freestyle-Tanzstil, der als Subkultur des Hip-Hop gilt. In Nordrhein-Westfalen – besonders in Oberhausen – ist die Szene groß, die erste Weltmeisterschaft fand sogar in Düsseldorf statt. Getanzt wird Krumping auf offener Straße, in Interaktion mit dem Publikum als „Battle“ der Teilnehmenden. Eine Wettkampfkultur also, die rivalisierenden Gruppen ursprünglich die Möglichkeit bot, sich zu messen, ohne gewalttätig zu werden. „Krump ist die Rockversion von Hip-Hop“ erklärt Kwame Osei, der gemeinsam mit Kama Frankl-Groß die künstlerische Leitung von Urban Arts übernommen hat – und innerhalb der Szene unter dem Pseudonym Big Wave ein echter Star ist. „Krump ist direkt, während Hip-Hop verschleiert. Wir zeigen genau, was wir fühlen!“ Wie expressiv das abläuft, lässt sich nun nicht mehr nur auf YouTube, sondern hautnah auf der Bühne erleben.
Das System verändern
„Natürlich stellte sich mir anfangs hier die Frage, wie sich ein Theater interdisziplinär transformieren kann, um mehr auf die Stadtgesellschaft zuzugehen“, so Kathrin Mädler. Dabei ist das Ziel, die neue Struktur zu verstetigen – also den Tanz zum integralen Bestandteil des Hauses zu machen. „Wir stocken nicht auf, sondern verändern uns als System: Auf Spielplanpositionen, die für das Schauspiel vorgesehen waren, setzen wir jetzt Tanzproduktionen.“ Auch in andere Produktionen sollen die Tänzer:innen eingebunden werden. Insgesamt besteht die neue Sparte aus knapp einem Dutzend Leuten: Vier Tänzer und zwei Tänzerinnen, dazu die zweigeteilte künstlerische Leitung und Christopher Deutsch als Produktionsleitung, ein Musiker (Mattis Rinsche), ein tanzender Choreograf (Hendrik Michalski) und zwei Kolleginnen für Orga und Disposition.
Künstlerischer Hintergrund ist die Fusion der von Christopher Deutsch gegründeten freien Gruppe ENSAMPLE und den Krumpern um Kwame Oseis „New Wave“-Bewegung. Dabei war der Stillstand während Corona eine Initialzündung: „In der freien Szene ist man heute in Japan, morgen in Rio und hat nie Zeit, sich als Gruppe zu finden. Man wird als Tänzer oder Choreograf für eine Produktion angestellt. Aber während Corona hatten wir nichts zu tun – und haben angefangen, als Ensemble Stücke zu entwickeln“, so Kwame Osei. Diese fluide Arbeitsweise fügt sich nun ins terminierte System eines Stadttheaters, wo man sich dafür ganz auf die Kunst konzentrieren kann: „Wir sind sehr impulsiv in der freien Szene, wollen manchmal innerhalb von drei Minuten etwas umsetzen. Das geht im Theater nicht! Ich schaue jetzt in meinen Kalender, das gab es vorher nicht. Es schmerzt ein bisschen, aber es tut uns allen gut.“
„Vagabund“, die erste Tanzproduktion am Theater Oberhausen, war ursprünglich als Streamformat während der Pandemie entstanden. Später wurde die interaktive Tanzperformance nach Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ zum Livekonzept für Schulklassen umgebaut, in dem die Kids unmerklich zum Mittanzen animiert werden. Auf der Hinterbühne stapeln sich in drei durch Klebestreifen abgegrenzten Bereichen rote Getränkekisten. Umgebaut zu Sitzplätzen, Laternen oder einem Königsthron dienen sie als flexible Requisiten, während Siryel Elina Chtioui, Hendrik Michalski und David Wilfried Mayinga durch die Geschichte des kleinen Prinzen führen. Auch Krump-Elemente fließen ein in die tänzerischen Momente – und der Spagat zwischen Beteiligung des jungen Publikums (euphorisch, lauthals, frech) und Stückdramaturgie (behutsam und musikalisch gelenkt) gelingt erstaunlich gut.
Ein Ort für urbane Kunst
Erste Uraufführung mit dem ganzen Ensemble wird im Frühjahr 2024 „Suits“, ein Stück, das die Lebensrealität von schwarzen Menschen in Deutschland verhandeln wird, ihre tagtägliche Konfrontation mit Rassismus. Auch Beteiligung ist ein Thema: In der Stückentwicklung „Multiversum“ (Mai 2024) werden Jugendliche auf der Bühne stehen, derzeit laufen Workshops in allen Schulformen der Stadt, um die Bandbreite der Beteiligten möglichst groß aufzustellen. Jeden Donnerstag gibt es ein offenes Training für Tanzwillige, einmal pro Monat eine Session mit DJ zum freien Tanzen. „Oberhausen soll ein Ort für urbane Kunst werden“, so Produktionsleiter Christopher Deutsch, der sich seiner Verantwortung dabei bewusst ist: „Als wir gestartet sind, war uns klar: Wir sind weiß und privilegiert. Wir wollten keine Folkwang-Absolventen für diese Sparte, sondern Leute aus der Szene, die sonst ausgeschlossen werden, weil sie nicht professionalisiert sind.“
So ist mit Urban Arts ein Dreieck entstanden, das strukturell und personell verschmilzt: Christopher Deutsch und sein ENSAMPLE bringen die Erfahrung der freien Szene ein, Kwame Osei die urbane künstlerische Praxis und das Theater Oberhausen mit Kathrin Mädler die nötigen Strukturen und Freiräume für Produktion. Auch die Mehrspartenvergangenheit des Hauses wird genutzt: Der ehemalige Orchesterprobenraum dient als Probenraum, ein kleiner Ballettsaal wurde renoviert. Brauchen Krumper einen speziellen Fußboden wie andere Tänzer? „Die neuen Kolleg:innen sind total unkompliziert, der Boden ist egal. Aber ein Fenster zum Lüften wäre schön, und Spiegel kommen noch!“ so Mädler.
Als Kwame Osei von einer seiner ersten Bühnenproben am Haus erzählt, wird die gegenseitige Wertschätzung deutlich: „Wir mussten eine Szene leuchten, und ich wurde auf einmal gefragt, welche Lichtstimmung ich brauche. Nicht gleich die erste Option nehmen, sondern ausprobieren können…! – Dafür bin ich sehr dankbar, wir werden hier mit so vielen Möglichkeiten bereichert.“
Schon jetzt kommen Jugendliche ins Training und dann zu Vorstellungen, die nie zuvor ein Theater von innen gesehen haben. Und noch etwas wirkt in die urbane Szene hinein: Dass Krumping eine männlich dominierte Tanzform ist, hängt mit der Sozialisation von Frauen zusammen, die es nicht gewohnt sind, ihre Aggressionen auszudrücken. Vielleicht deshalb sind gerade die beiden Tänzerinnen im Ensemble besonders expressiv beim Krumping. Auch Themen wie Homophobie oder Sexismus im urbanen Bereich zu verhandeln ist ein Wunsch des Teams: „Das Thema Frauenquote wird ja derzeit stark verhandelt in den Institutionen“, erläutert die Intendantin: „Fakt ist, dass Gewalt sehr männlich gelesen wird, aber wie kann man das mit Tänzerinnen umdeuten, in einen ästhetischen Kontext stellen?“
Es ist ein Prozess der gegenseitigen Annäherung, die Lust aller Beteiligten ist spürbar, und das wöchentlich angebotene Tanztraining für alle Kolleg:innen am Haus dürfte das Kennenlernen erleichtern. Vielleicht ist es gerade die Freiheit beim Krumping, von der das Stadttheater lernen kann. „Krump ist wie ein Rausch auf der Bühne. Nichts ist festgefahren auf Bewegungsmuster!“, beschreibt Kwame Osei. Man soll eigene Formen finden. „Be real! Mach es so, wie du es fühlst.“ – Wo ginge das besser als auf einer Bühne?
Mehr über Urban Arts: Seit dieser Spielzeit existiert mit Urban Arts eine neue Tanzsparte am Theater Oberhausen. Unter der künstlerischen Leitung von Kama Frankl-Groß, Kwame Osei und der Produktionsleitung von Christopher Deutsch entstehen Tanztheaterstücke und offene Tanzangebote für die Bühne und den Stadtraum. Stilistisches Zentrum des neuen, sechsköpfigen Ensembles ist der Tanzstil des Krumping, einer Form des Hip-Hop, der Geschlechterbilder kämpferisch infrage stellt.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 1/2024.