Bautzen: Binationale Theateroase
Foto: Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen © Andreas Herrmann Text:Andreas Herrmann, am 1. Mai 2024
Die ostsächsische Kreisstadt hat noch knapp 40.000 Einwohner und drei neue Theatergebäude: das Sorbische National-Ensemble (SNE) und das Deutsch-Sorbische Volkstheater mit den zwei Spielstätten Großes Haus und Burgtheater. Der Rückhalt von Bevölkerung und Politik ist groß.
Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“ So lässt Gotthold Ephraim Lessing seinen „Nathan der Weise“ per Regieanweisung glücklich enden, auch wenn echte Geschwisterliebe uns unmoralisch erscheint. Am Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen ging 2020 ein lang gehegter Wunsch von Intendant Lutz Hillmann in Erfüllung: In der Regie des Chemnitzer Schauspieldirektors Carsten Knödler spielte er selbst den Nathan – also jenen „jüd’schen Wolf im philosoph’schen Schafpelz“, hinter dem der Tempelherr trotz Verlust von Frau und sieben Kindern verzeihen kann und vermitteln will. Die heutige Fassung, mit Fokus auf den Text und ohne technischen Firlefanz, steht nach geraumer Pause nun wieder auf dem Spielplan des Volkstheaters. Bautzen lockt Theaterfreunde aber nicht nur mit Lessing: Die ostsächsische Kreisstadt mit knapp 39 000 Einwohnern ist auch Hauptstadt der Sorben, einer slawischen Minderheit in der Lausitz, deren Kulturerhalt hier seit über 75 Jahren als Stadt- wie Staatsräson gepflegt wird. An gleich drei nagelneuen Theaterhäusern: Mit ähnlich klarer Glasfassadenstruktur, die Offenheit und Transparenz verheißt, liegen sie auf rund 2500 Schritten ab dem Bahnhof bis hoch oben zur Burg über dem Spreebogen, wo sich nebenan das Oberlandesgericht und das Sorbische Museum befinden.
Bereits nach 670 Schritten – vom Bahnhof aus – prangt das Große Haus des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, dann folgt auf halbem Weg das frisch sanierte Gebäude des Sorbischen National-Ensembles (SNE genannt), ein verwinkeltes Gebäudelabyrinth rings um die uralte Röhrscheidtbastei, an dessen neuem Eingangsfoyer heute die obersorbische Leuchtschrift „Serbski Ludowy Ansambl“ prangt. Und hoch über der Stadt thront seit September 2003 ein harmonisch eingepasster Neubau mit zwei Studiobühnen: Das Burgtheater im Hof der historischen Ortenburg ist der erste Theaterneubau nach der Wende im Osten und seither Sitz der Puppenspielsparte des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters sowie Spielstätte für den Bautzener Theatersommer.
Das Deutsch-Sorbische Volkstheater
Lutz Hillmann, Jahrgang 1959 und geborener Oberlausitzer, ist seit 1985 als Schauspieler am Deutsch-Sorbischen Volkstheater engagiert – und seit 1999 auch Intendant. Neben dem 25. Amtsjubiläum und 20 Jahren Burgtheater hatte er kürzlich noch zwei andere Jubiläen zu feiern: 75 Jahre Sorbisches Volkstheater und 60 Jahre Fusion von diesem mit dem Bautzener Stadttheater. Als einziges bikulturelles Berufstheater Deutschlands beherbergt das Deutsch-Sorbische Volkstheater ein 20-köpfiges Schauspiel- und ein sechsköpfiges Puppentheaterensemble, die beide mehrheitlich in deutscher, oft in ober- und seltener in niedersorbischer Sprache spielen. Ballett und Orchester hat man im Zuge der Neustrukturierung in den Neunzigern verloren, die Neue Lausitzer Philharmonie ging ans Görlitzer Musiktheater. Eine offene Wunde – bis heute.
Hillmanns Verdienst ist seitdem das Lobbying für eine perfekte Infrastruktur und eine nahezu uneingeschränkte politische Unterstützung für das Theater in Stadt und Kreis, für welches es zeitweise sogar eine eigene kleine Stadtratsvertretung namens Pegasus mit bis zu zwei Sitzen unter seiner Leitung gab. So kosteten die beiden Neubauten samt Rekonstruktion des heutigen Bürogebäudes in Summe nur rund knapp sechs Millionen Euro.
Der Bautzener Theatersommer
Der Bautzener Theatersommer, dessen 28. Edition „Spuk unterm Riesenrad – Jetzt ist Bautzen dran“ betitelt ist und Anfang Juni startet, ist Hillmanns Idee, läuft unter seiner Regie und stammt zudem oft aus seiner Feder. Jährlich ist die ganze Stadt samt Umland auf den Beinen, Bürgermeister und Landrat treten zur Premiere kostümiert an und zünden gemeinsam die Startschusskanone: Mit Tanzgruppe und vielen Statisten herrscht Volksfeststimmung samt allabendlichem Feuerwerk.
Im Vorjahr inszenierte Oberspielleiter Stefan Wolfram hier „The Addams Family“ und zog in 35 Vorstellungen knapp 34 000 Leute an. Das heißt 95 Prozent Auslastung. In Summe zeigt die Theaterbilanz für 2023 über 128 000 Besucher in 784 Veranstaltungen. Das Schauspiel Leipzig zählt in Summe für 2023 in vier Spielstätten 118 151 Besucherinnen und Besucher (bei weit über 600 000 Einwohnern). Dort kommt also – rein statistisch gesehen – jede/jeder Fünfte einmal im Jahr, hier in Bautzen jede/jeder dreimal allein ins Volkstheater. Und dann gibt es ja noch das SNE, mit dem mindestens zwei Kooperationen pro Jahr anstehen, wobei dessen Ballett und das Orchester gefragt sind. Eine davon ist der gemeinsame zweitägige Theaterball, der in Bautzen ein Höhepunkt für die Stadtgesellschaft ist.
Das Sorbische National-Ensemble
Tomaš Kreibich-Nawka ist der Intendant des Sorbischen National-Ensembles. Ehemals bei der Dresden Frankfurt Dance Company als Korrepetitor sowie an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden engagiert, wurde der Oberlausitzer Anfang 2019 erst Dramaturg am Sorbischen National- Ensemble, bald zum Stellvertreter von Intendantin und Dirigentin Judith Kubitz, die wie ihre Vorgängerin vorfristig ging, und dann ab Sommer 2021 schließlich ihr Nachfolger.
Das Haus, das die Stiftung für das sorbische Volk betreibt, ist nach einiger Unruhe und Sparzwängen in den letzten anderthalb Dekaden wieder zur Ruhe gekommen und feierte im Herbst 2022 seinen 70. Geburtstag – im für knapp 2,9 Millionen Euro runderneuten Bau.
Dort läuft derzeit eine bemerkenswerte Uraufführung in Regie von Kreibich-Nawka, welche das ganze Ensemble – also Orchester, Chor und Ballett plus Solisten und Zusatzchor – fordert. Das Oratorium „Wójna a Měr“ (dt.: „Krieg und Frieden“) von Michał Nawka (Text) und Bjarnat Krawc (Musik) entstand 1942 und ging aus einem Briefwechsel hervor in einer Zeit, als es Slawen im Reich sehr schwer hatten – auch die sorbischen Patrioten, die nur noch Hoffnung in Gott sahen. Entstanden sind 22 Nummern für Klavier und Chor, die Kriegsfrevel und die Friedenssehnsucht einfacher Leute spiegeln. Weil der christliche Bezug in der DDR unerwünscht war, gab es eine Aufführung in der Heimat erst 1995. Nun hat es Hans-Peter Preu für Orchester neu instrumentiert und Gundula Peuthert dazu eigenwillige Tanzcollagen zu elektronischer Musik kreiert. All das ist sehr ambitioniert, die 80 Minuten „Wójna a …“ sind der erste Teil des Oratoriums und verhandeln Charakterzüge des Krieges auf privater Ebene – mit obersorbischen Arien, chorischen Klageliedern, kämpferischen Jugendtänzen und deutschen Zwischentexten.
Höhepunkt der alljährlichen SNE-Spielzeit sind die beiden Inszenierungen der „Vogelhochzeit“ für Kinder wie Erwachsene, die sich als Ereignis allen Vergleichen entziehen, denn sie repräsentieren eine eigene Theaterform: Spiel, Tanz und Gesang mit Orchester, als jährliche Uraufführung verflochten mit einer Story, die meist versucht, Folklore mit akutem Zeitgeist zu verknüpfen – oft auch (selbst-) ironisch mit kabarettistischem Einschlag, ab und an auch mit engagierten Laien in den Hauptrollen. Die Produktionen als Mischform aus Musical und Volkstheater enden fürs erwachsene Publikum an drei Sonnabenden ab Ende Januar mit einer Feier als Tanzabend mit sorbischer Küche.
Trotzdem hat das Haus finanzielle Sorgen: Kreibich-Nawka klagt über die Coronafolgen, denn das SNE lebt auch von Gastspielbuchungen, vor allem im Westen und im Ausland, die noch immer massiv eingebrochen sind. Er trägt Verantwortung für 93,25 Planstellen, da runter zwei Eleven, bekommt dafür als Etat 5,6 Millionen von der Stiftung plus 260 000 Euro vom Kulturraum und konnte im Jahr 2023 in Summe 43 000 Zuschauer zählen.
Generell ist die politische Lage in Bautzen – sicher auch dank beider Theater und der starken sorbischen Diaspora – nicht so rau wie im ostsächsischen oder südbrandenburgischen Umfeld. Oberbürgermeister und Landrat (beide CDU) sind klar gewählt, sodass beide Theaterleiter einigermaßen gelassen in die kommende Spielzeit schauen können: Kreibisch-Nawka hat sich den zweiten Teil des Oratoriums, also „… a Měr“ vorgenommen – wenn es sein muss, auch ohne auf Frieden zu warten –, vielleicht taugt das Gesamtwerk dann für den Tourneebetrieb. Und Lutz Hillmann, der eigentlich bald in den Ruhestand gehen könnte und in Sachen Regie keine Wünsche mehr kennt, hat als Spieler noch eine Traumrolle, die zur heutigen Zeit passe: Millers Handlungsreisender Willy Loman. „Dessen tragische Aussichtslosigkeit erlebe ich heute wieder in der Stadt – wirtschaftliches Scheitern ist leider wieder en vogue“, seufzt er.
Sorbisches National-Ensemble, 1952 gegründet, ist es das einzige professionelle sorbische Tanz- und Musiktheater (in der Welt) und verfügt über die Sparten Orchester, Ballett und Chor.
Deutsch-Sorbisches Volkstheater, 1963 aus einer Fusion des Stadttheaters mit dem Sorbischen Volkstheater Bautzen entstanden, beherbergt es als einziges bikulturelles Berufstheater Deutschlands ein Schauspiel- und ein Puppentheaterensemble. Höhepunkt der Spielzeit ist der Bautzener Theatersommer. Zweite Spielstätte ist das Burgtheater als Sitz des Puppentheaters und Ort für Experimentelles.
Die Sorben, In der Lausitz leben offiziell rund 60 000 Sorben, davon zwei Drittel in der sächsischen Oberlausitz rings um Bautzen, rund ein Drittel in der brandenburgischen Niederlausitz rings um Cottbus. Der Dachverband aller sorbischen Verbände ist seit 1912 die Domowina, die als Interessenvertretung für den Erhalt von sorbischer Sprache, Kultur und Identität sorgt und derzeit in fünf Regionalverbänden rund 7500 Mitglieder zählt. Die Stiftung für das sorbische Volk, 1991 im Rahmen der Wiedervereinigung gegründet, bekommt derzeit rund 23 Millionen Euro pro Jahr (jeweils zur Hälfte von Bund sowie den beiden Bundesländern) und finanziert damit Sprach- und Kulturförderung. So wird Sorbisch bis heute an über 50 Schulen in Sachsen und Brandenburg gelehrt.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 3/2024.