Man sieht das Gebäude der Badischen Landesbühne in Bruchsal

Willkommen in Bruchsal!

Intendant Wolf E. Rahlfs hat für die Badische Landesbühne Bruchsal große Ambitionen was Inklusion und Pluralismus anbetrifft – und wird ihnen jetzt schon gerecht.

Manchmal ist das Theater, mögen seine Klassiker auch noch so alt sein, der kruden Wirklichkeit weit voraus. Nur wenige Wochen vor dem Bekanntwerden eines geplanten umstürzlerischen Treffens von Rechtsextremen und AfD-Funktionären in Potsdam, das die Aussiedelung von Nicht-„Biodeutschen“ zum Thema hatte, brachte die Badische Landesbühne in Bruchsal „Transit“ (1944), eines der kanonischen Werke der Exilliteratin Anna Seghers, auf die Bühne. Wie visionär ist dieser Text in diesen angsterfüllten Tagen? Nun, die 1941 nach Mexiko emigrierte Autorin zeigt, was passiert, wenn radikale Kräfte wie das damalige Naziregime an die Macht gelangen. Viele kennen dann nur noch eine Option, nämlich die Flucht. Diese wird ihren Figuren jedoch verwehrt. Gestrandet in Marseille, rennen sie gegen die Windmühlen der Bürokratie an, während ihnen die Zeit, zu entkommen, davonläuft. Kathrin Mayr hat dafür ein schauerliches Bühnenbild (Kulisse und Kostüm: Johanna Bajohr) gefunden. Zwischen Türen und Wände symbolisierenden Streben, die keinen Rückzug mehr ins Private zulassen, säumen schwarze Ascheflocken den Boden. Mal lassen sie, wenn sie zwischen Liebenden mittels Ventilatoren in die Luft gewirbelt werden, noch an eine Winterromantik denken, mal stellen sie zerfetzte Identitätspapiere dar. So oder so ist für die in der Ferne die Rettung erhoffenden Protagonisten nichts von Bestand.

Man sieht ein Szenenfoto der Aufführung „Transit".

Szenenfoto aus „Transit“ mit (v. l. n. r.): Tobias Gondolf, Madeline Hartig und Thilo Langer. Foto: Sonja Ramm

Schon diese letztlich solide (aber nicht mitreißende) Inszenierung verdeutlicht, dass die neue künstlerische Leitung unter Wolf E. Rahlfs für einen neuen Wind im großen Flächengebiet zwischen Rhein, Neckar und Schwarzwald steht. Er rührt von einer hehren politischen Ambition her. Wie der Intendant im Interview betont, sei man vor allem an einer breiten Öffnung des Theaters interessiert. „Wir wollen viel zuhören, an all unseren Standorten, wo wir quasi als mobiles Stadttheater aktiv sind, und dabei Vielfalt leben“, sagt er. Diesem Anspruch fühlt sich ebenso Gina Jasmina Wannenwetsch, die Leiterin der Jugendsparte, verpflichtet. Um ihm bei den heranwachsenden Zuschauer:innen Geltung zu verschaffen, widmet sie sich in der aktuellen Spielzeit dem traditionellen Genre der Märchen mit einer zeitgemäßen Perspektive. „Queere Lebensrealitäten finden darin nicht statt“, weswegen sie vor allem jene Texte in regelmäßigen Abständen vorstellt, die binäre Muster wie Mann und Frau unterlaufen. Kinder dürfen sich dabei selbst einbringen und andere utopische Welten basteln.

Analog dazu bietet die Reanimation des Bürgertheaters auch Erwachsenen an, über eine bessere Zukunft nachzudenken. Dass man sich im Rahmen dieses niedrigschwelligen Teilhabeprojekts insbesondere dem Thema der Menschenrechte widmet, erscheint nur konsequent, zumal der Abendspielplan und damit die professionellen Theatermacher Ähnliches verfolgen. Insbesondere ein Anliegen sticht hervor: Taubstummen einen Zugang zum Schauspiel zu ermöglichen. Einzelne Aufführungen werden dazu von Gebärdendolmetscher:innen begleitet. Diese sind direkt auf der Bühne, gewissermaßen als zweiter Schatten der Schauspieler:innen, präsent und sorgen mittlerweile nach Angaben des Intendanten dafür, dass das Publikum aus zahlreichen Regionen der Republik anreist.

Man sieht ein Porträt von Wolf E. Rahlfs, Intendant der Badischen Landesbühne

Wolf E. Rahlfs, Intendant der Badischen Landesbühne. Foto: Manuel Wagner

Hier redet man eben nicht nur von Inklusion, sondern lebt sie, wie man an einem Abend mit der Aufführung von Stefan Vögels Komödie „Die Niere“ eindrucksvoll studieren kann. Im kleinen Zuschauerraum haben sich mehrere zusammengefunden, die sich reichlich mittels Gebärden austauschen. Und auch für nicht Taubstumme liefern die Liveübersetzer:innen einen Mehrwert. Sie unterstreichen mit ihrer Mimik die bereits im Text vorhandene Ironie bei einem durchaus delikaten Thema. Im Zentrum steht die ethische Diskussion um Organspende: Nachdem Arnold (Markus Hennes) als Architekt einen großen Coup an Land gezogen hat, verbildlicht in einem meterhohen phallischen Hochhaus in der Mitte des Parketts, dämpft seine Frau Kathrin (Evelyn Nagel) empfindlich die Stimmung. Denn ihrem Arzt zufolge braucht sie dringend eine neue Niere. Da ihr Mann es allerdings versäumt, ihr ohne nachzudenken seine eigene zur Verfügung zu stellen, entbrennt ein Streit um die großen Debattenpfeiler Freiheit, Verantwortung und – ja, auch Liebe. Noch angeheizt wird der sinnbildliche Brand mit der Ankunft eines befreundeten Ehepaares. Parteinahmen konstellieren sich häufig um, wobei unversehens so manche Lebenslüge aufs Tapet kommt. Am Ende bleibt ein Scherbenhaufen zurück, einer, der markant die schon zuvor brüchige Oberfläche der zivilisatorischen Moral dokumentiert.

Der Neuaufbruch in Bruchsal demonstriert in summa leidenschaftlich, wie sich gediegene Unterhaltung mit Haltung und intellektueller Verve verbinden lassen. So könnte tatsächlich ein kultureller Ort für alle entstehen. Der scheint auch nötig. Denn im multitheatralen Raum zwischen Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe, Baden-Baden und Pforzheim erweist sich Offenheit als vielversprechendes Rezept. Und das Schöne daran: Hier ist es wirklich weitaus mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis.

Über das Theater, Die Badische Landesbühne wurde 1949 in Neckarsulm gegründet. Seit 1952 ist sie in Bruchsal ansässig. Heute bilden vier Landkreise, 16 Mitgliedsgemeinden, das Finanz- und das Wissenschaftsministerium den Trägerverband. Das angestammte Spielgebiet reicht von Bruchsal bis Tauberbischofsheim.

 

Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 2/2024.