Nele Hertling, die Erfinderin des Hebbel-Theaters und anderer zeitgenössischer Plattformen für Tanz und Theater, hat das Theater Berlins offener und internationaler gemacht. Sie wird 2024 mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für ihr Lebenswerk geehrt.
Sie gründete das größte internationale Tanzfest Deutschlands, Tanz im August. Sie sorgte für das erste Theater der internationalen Performance-Kunst in Berlin, das Hebbel-Theater am Ufer. Sie machte Trisha Brown, die Wooster Group, Robert Wilson in Deutschland bekannt, Merce Cunningham, Boris Charmatz, Jan Fabre – und viele mehr. Sie hat die „freie Szene“ in Deutschland erst erfinden müssen – vor ihr gab es für internationale Künstler:innen weder Budget noch Auftrittsmöglichkeiten. Und: Sie war die erste Frau in Westdeutschland, die ein Theater leitete.
Als ich die 90-jährige Nele Hertling in ihrem ruhigen Berliner Wintergarten in Nikolassee nach ihrem liebsten „Lebenswerk“ frage, antwortet sie allerdings: „Die Freundschaft mit meinem Hebbel-Theater-Team.“ Noch heute, mehr als 30 Jahre später, treffen sich diese zwei Handvoll Menschen regelmäßig. „Wir sind wahrscheinlich das am besten über Kultur informierte Grüppchen Berlins“, sagt sie augenzwinkernd.
Die Gründung des HAU 1989
Völlige Laien in der Leitung eines Theaterhauses seien sie damals gewesen. Hertling setzte durch, nicht die großen Namen zu holen, sondern 1989 mit dieser jungen Truppe das erste internationale Performance-Haus in Berlin zu führen. Man kochte abwechselnd für die ganze Gruppe zu Mittag, alles lag für alle offen auf dem Tisch, jeder gab 150 Prozent, jeder trug Verantwortung. Niemand aus der Gruppe habe jemals wieder so kreativ und eigenverantwortlich arbeiten können, sagt sie. Warum hat es funktioniert? „Weil ich nicht an Hierarchien interessiert war.“ Sie hat damals gelebt, was heute von Intendanzen (nur) gefordert wird: Team-Verantwortung, flache Leitungsstrukturen.
Nele Hertling kokettiert nicht. Recht besehen ist ihre Antwort völlig einleuchtend. Das Wichtigste, was Kunst und Kultur ihrer Ansicht nach leisten können, ist: Verständigung, Dialog, Miteinander. Ermöglichen statt Canceln. Schon immer. Aber gerade jetzt. Mit der Berliner Akademie der Künste, deren Sektion Darstellende Kunst sie noch immer leitet, hat sie im August einen offenen Brief herausgegeben, der sich gegen die Bemühungen der Bundesregierung ausspricht, jüdisches Leben durch Antisemitismusklauseln zu schützen. Die Akademie ruft die Regierung auf, „die Verabschiedung auszusetzen und stattdessen einen Dialogprozess zu starten, der die Eigenverantwortung von Kunst, Kultur und Wissenschaft bei der Erreichung dieser wichtigen gesellschaftlichen Ziele in den Mittelpunkt stellt“.
Gegen oberflächlich-ideologische Abgrenzung
Ganz ähnlich formuliert sie es in unserem spätsommerlichen Wintergartengespräch. „Wenn sich die Kämpfe innerhalb der Kultur so verengen, ist das kein hilfreiches Zeichen für die Gesellschaft. Die Chance, ein Ort des Dialogs zu sein, wird von der Kultur nicht besetzt.“ Auch den Boykott russischer Künstler:innen hält sie für falsch. „Wenn man Menschen aus ideologischen Gründen ausschließt, verlieren Kunst und Kultur ihre Kraft: das Miteinander. Man sollte sich gegen oberflächlich-ideologische Abgrenzungen zusammentun.“
Der Dialog, er zieht sich durch Nele Hertlings Leben. Immer ging es ihr darum, mehr Kunst für mehr Menschen zu öffnen. Als sie 1975 an der Akademie der Künste die internationale Gastspielreihe Pantomime – Musik – Tanz – Theater ins Leben rief, gab es in Berlin keinen Ort für internationales Theater oder internationalen Tanz. Die Stadt- und Staatstheater hatten ihr eigenes Ensemble und ihren festen Spielplan, für Gastspiele gab es weder Geld noch Raum. Ausgerechnet die einmalige Form des Ensemble- und Stadttheatersystems machte die deutschen Theater auch provinziell. „Diese Art von Kunst kannte in Deutschland niemand. Wir haben dafür ein Publikum gefunden.“ Heute ist ein Festival wie Tanz im August (gegründet 1989 am Hebbel-Theater) bestens besucht und etabliert.
Sie entdeckte Frauen wie Lucinda Childs und Anne Teresa De Keersmaeker
Noch immer wirbt Nele Hertling bei der Politik für die breitere Anerkennung des Tanzes. „Es geht nicht nur um Finanzierung, sondern darum, eine Kunstform auf gleicher Ebene zu präsentieren, das findet nach wie vor nicht statt.“ Zumindest mit Blick auf die Berliner Festspiele sieht sie sich aber bestätigt: Lucinda Childs, Trisha Brown und Anne Teresa De Keersmaeker sind dort im Winter zu Gast – die Frauen, die Hertling damals für Deutschland entdeckt hat. Allerdings, da sind wir uns einig: Ein relevantes internationales Haus oder Festival wie etwa in Avignon, das fehlt in Berlin noch immer.
Der gesellschaftspolitische Dialog gehört für sie nicht unbedingt auf die Bühne. Vieles, was sie derzeit in den Theatern sieht, sagt sie, sei ihr zu oberflächlich-aktivistisch. Es erreiche sie nicht.
Zum Dialog zählt unbedingt: das Netzwerken. Vor allem mit der Politik. „Ich habe immer Lobbyarbeit gemacht. Ich bin zu jeder Sitzung gegangen.“ Wenn Vertreter:innen der Regierung aus Bonn nach Berlin reisten, legte sie Programme in deren Postkästen und lud zu Führungen ein. „Ich wollte sie von Berlin überzeugen – über die Kultur.“ Noch immer gebe es in der deutschen Politik kaum Menschen, die sich mit den Chancen auseinandersetzen, die sie hätten, würden sie die Kultur ernster nehmen, sogar im Kulturausschuss. „Das ist völlig unterentwickelt in Deutschland, anders als in Frankreich.“ Über den Berliner Kultursenator Joe Chialo, der Hertling für Beratungen herangezogen hat, sinniert sie: „Ich sage mal: Er bemüht sich.“ Einen Kultursenator mit Eigeninitiative wie den CDU-Mann Volker Hassemer in den 1980er-Jahren habe es in Berlin nie wieder gegeben.
„Dialog“ darf man bei Hertling nicht mit „Kuschelkurs“ verwechseln. Hortensia Völckers, ehemalige Leiterin der Bundeskulturstiftung, hat die Zusammenarbeit mit ihr einmal so beschrieben: „Sie schlug sich, genau wie ich, mit sehr vielen Männern herum. Ich konnte sehen, mit wie viel Eleganz sie durchsetzte, was sie wollte – das war eindrucksvoll.“ Doch als sie später selbst auf der Seite der Förderer stand, habe sie eine andere Nele kennengelernt. „Auch elegant. Aber so stur! Unglaublich! Ich sagte zum Beispiel: Nein, das finde ich schrecklich, was ihr da mit dem Tanz vorhabt, warum müsst ihr das so machen? Sie ließ das alles über sich ergehen – und fing wieder von vorn an. Nach dem dritten Mal habe ich gedacht: Na, gut, dann macht es eben. Sie bekam alles, was sie wollte, und das muss man erst mal hinkriegen.“
Die „Mafia” der Produktionshäuser
Nele Hertling wollte nicht nur die Avantgardekunst nach Berlin bringen, sondern hier auch neue Werke mit diesen Künstler:innen erschaffen. Dafür hat sie sich mit Produktionshäusern etwa in Salzburg, Amsterdam und Brüssel zusammengetan, von Außenstehenden bald als „die Mafia“ bezeichnet, als sei hier tatsächlich großes Geld im Umlauf. Von der Presse kam viel Gegenwind: Wie könne man in einem schönen alten Berliner Haus wie dem Hebbel-Theater fremde Sprachen aufführen? Das passe doch nicht! Hertling blieb hartnäckig. Wann immer heute ihr Name fällt, ist nicht nur die Hochachtung groß, sondern auch die Sympathie für diese Jeanne d’Arc der freien Szene. Als klug, couragiert, freundlich und uneitel wird sie beschrieben. Unbestechlich und zielstrebig. Die Kunst steht bei ihr im Zentrum. Nicht das Festival, nicht der Erfolg, das Geld oder die Publikumsresonanz.
2022 erschien das dicke Buch „Ins Offene“, das in Briefen und Gesprächen von und mit Wegbegleiter:innen über Nele Hertling erzählt. Anrührend ist es, mit welcher Zärtlichkeit Künstler:innen über sie schreiben. „Jedes Mal, wenn wir uns sehen, fühle ich mich sehr beschützt, liebevoll beschützt“, schwärmt der Schauspieler Ricardo Bartis. „Mit ihr zu sprechen war stets wie Balsam“, beschreibt der Choreograf Cesc Gelabert Uslé.
Boris Charmatz nennt sie ein „lebendes Denkmal der Kultur“. „Es braucht mehr Nele Hertlings“, fordern gleich mehrere und meinen damit ihre Art zuzuhören, zu fördern, zu ermutigen, den Künstler:innen bei Misserfolgen treu zu bleiben – ohne dabei unkritisch zu sein. „Obwohl Nele an der Spitze des internationalen Theatergeschäfts stand“, schreibt der Amsterdamer Intendant Steve Austen, „wurde sie nie einer von den Jungs. Das an sich ist schon eine große Leistung.“ Allen fühlt man ihren Respekt und ihre liebevolle Freundschaft zu Nele Hertling nach – und fragt sich, wie diese Frau (mit Ehemann Cornelius Hertling und drei Kindern!) es geschafft hat, all diese persönlichen Beziehungen über ganz Europa und die USA verstreut zu pflegen.
Eine 90-Jährige mit Tatkraft, Neugier und Vertrauen
Auch heute noch ist die 90-Jährige ein Vorbild an Tatkraft, Neugier und Vertrauen in den Menschen. Ihr Herzensprojekt ist A Soul for Europe, eine 2004 ins Leben gerufene Initiative von und mit jungen Leuten, die Europa mithilfe von Kunst stärken möchte. „Dort passiert so viel Positives. Wenn es, auch in den Medien, einen Umschwung gäbe, wenn mehr über diese kleinen, mühseligen, guten Dinge berichtet würde statt über Katastrophen, könnte das die Sache drehen.“ Auch ihrem Sohn, „einem Melancholiker“, erzähle sie zur Kräftigung drei-, viermal die Woche von den schönen Neuigkeiten aus A Soul for Europe. Eine Optimistin für die ganze Familie.
Wie schafft sie das? Woher nimmt sie diese Kraft? „Aus meiner Familiengeschichte heraus hat sich dieser Antrieb entwickelt. Dass man immer versuchen muss, die Dinge ins Positive zu drehen.“ In Berlin wurde sie 1934 in eine Zeit der politischen Katastrophen hineingeboren. Ihre jüdische Mutter Cornelia Schröder-Auerbach war Musikwissenschaftlerin und Pianistin und hatte unter den Nazis Berufsverbot, der Vater Hanning Schröder, Komponist, aus politischen Gründen ebenfalls. Mit ihrer Mutter kam Nele während des NS-Regimes in einem Mecklenburger Pfarrhaus unter. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehört die Musik, die ihr Zuhause erfüllt hat. Die Kunst, sagt Nele Hertling, ist ihr Kraftfeld. Und mit den Mitteln von Kunst und Kulturinstitutionen, das ist ihre Überzeugung, kann man zu einer gerechteren Welt beitragen.
Sind die politischen Zeichen heute und damals vergleichbar? „Sie drohen, vergleichbar zu werden.“ Bestürzt ist sie über Befragungen in Thüringen und Brandenburg vor den Landtagswahlen, über Stimmen, die sagen: Wir haben keine Demokratie mehr, wir werden bestraft, wenn wir unsere Meinung sagen. „Das ist Quatsch. Wir haben doch vieles erreicht. Das müsste man viel häufiger betonen, auch in den Medien. Aber die Menschen sehen nur Chaos und Kampf und Negatives. Alles wird niedergemacht.“
Es sind wenige Themen, bei denen Nele Hertling in unserem Gespräch verzagt klingt, aber es gibt sie. „Die Kultur muss sparen – und Kriege werden finanziert. Wie haben wir uns verändert. Und es wird noch schlimmer werden.“ Was nicht bedeutet, dass sie sich gegen Waffenlieferungen ausspricht, diese Forderung hält sie für naiv. Und naiv ist Hertling wahrlich nicht.
Zur Zukunft der freien Szene
Welche Zukunft hat in diesen Zeiten die freie Szene? Nele Hertling mag das Wort nicht – denn „frei“ ist diese Szene nun ja gerade nicht, sondern unter großen finanziellen Zwängen. Ein besseres Wort ist ihr aber noch nicht eingefallen. Die „sogenannte freie Szene“ also ist nur insofern frei, als dass man sie leichter abschaffen kann. Siehe die harten Kürzungen der Kulturstaatsministerin. „Was Claudia Roth tut, hat mich zutiefst verwundert und erschreckt.“ Denn auch wenn Stadt- und Staatstheater sich ihr thematisch und ästhetisch angenähert haben, ist die freie Szene deutlich wendiger. „Gerade die freien Produktionshäuser können ja auf politische Veränderungen inhaltlich viel schneller reagieren.“
Obwohl Nele Hertling die freien Künstler:innen immer beschützt hat – sie ist keine Ideologin. „Was hat Sie auf der Bühne zuletzt wirklich bewegt?“, frage ich zum Schluss. Sie überlegt. Sie nennt keine freie Produktion. Sondern Falk Richter, seine Inszenierungen an der Berliner Schaubühne. „Weil darin plötzlich jemand so persönlich und offen gesprochen hat. Und so nachvollziehbar wurde. Das hat mich bewegt.“ Kunst stärkt Nele Hertling noch immer. Und sie stärkt die Kunst.