Foto: Philipp Quest, Simin Soraya, David Lau und Daniel Rothaug leben in einem Setzkasten. © Forster
Text:Michael Laages, am 1. November 2024
Nora Bossongs Stück „Grabeland“ erzählt bei seiner Uraufführung am Theater Oberhausen von „kriegswichtiger Industrie“ im Ruhrgebiet – aber nicht von Eisen und Stahl.
Während das Ruhrgebiet vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zur „Waffenschmiede“ des Reiches aufrüstet, entsteht in Gelsenkirchen ein industrielles Projekt, das eher nach friedlicher Brieftaubenzucht klingt als nach kriegswichtiger Wirtschaft: Auf „Grabeland“, einer Feld-, Wald- und Wiesenbrache fördert die nationalsozialistische Stadtverwaltung des Oberbürgermeisters Böhmer auch die Aufzucht von Seidenspinnerraupen. Wofür? Vor allem für den Nachschub an Fallschirmen für Kampfflieger.
Die „Rauperei“ in Gelsenkirchen entwickelt sich zur wichtigen Produktionsstätte. Seit 1936 ist der neue Wirtschaftszweig auch Auffangbecken für Arbeitskräfte, die im Bergbau nicht mehr benötigt werden oder die eigene Gesundheit unter Tage bis an die Grenzen der Belastbarkeit geschädigt haben. Von diesem Umbruch erzählt die Schriftstellerin Nora Bossong im ersten eigenen Theaterstück. Kathrin Mädler, Intendantin am Theater Oberhausen, hat es jetzt uraufgeführt.
Lokalgeschichte als Familiendrama
Die kriegswichtigen Seidenraupen wimmeln zu Beginn in einer Video-Projektion auf dem Fallschirmstoff. Der verdeckt zunächst die rechte Hälfte einer Art Setzkastenbühne, die Franziska Isensee entworfen hat. Verzahnt hat Nora Bossong die Geschichte vom erstaunlichen Gelsenkirchener Geschäftsmodell mit einem sehr privaten Familiendrama: Schorsch, also Georg, und Lotte sind zwar verheiratet, haben aber keine Kinder, trotz Kinderwunsch. Gatte Schorsch würde ihr ersatzweise so gern ein bisschen mehr Luxus bieten, vielleicht eines Tages sogar eine Reise nach Paris. Stattdessen hängt er aber am Lohntütentag regelmäßig am Zapfhahn und im Büdchen an der Ecke. Derweil hat sich die zutiefst verzweifelte Lotte Georgs Bruder Gustav zugewandt. Von ihr stammt das stärkste dramatische Motiv im Text – sie hätte ein Leben haben können, aber sie hatte nur Pech.
Georg und Gustav sind voller Aufbruchsenergie eingestiegen ins Seidenraupen-Business, erhoffen sich den Aufschwung, den ihnen auch die omnipotenten nationalistischen Sieger-Fantasien der Propaganda versprechen. Und tatsächlich: Eine Weile geht es tatsächlich voran. Schorsch und Lotte können sogar in ein größeres, schöneres Haus ziehen. Die jüdische Familie Schneider musste fliehen und das Häuschen war darum billig zu haben.
Nora Bossong erzählt Weltgeschichte in regionalem, ja lokalem und familiären Zuschnitt. In Drei-Jahres-Schritten geht’s voran: die jeweiligen Neujahrs-Versprechungen der Gelsenkirchener Stadtverwaltung aus den Jahren 1936, 1939 und 1942 sowie Protokolle der regelmäßigen Versammlungen des Rauperei-Vereins geben dem Text eine Art dreiaktiger Struktur. Eine Figur in Flieger-Montur, jemand, dem das Produkt aus Seide irgendwann mal das Leben retten soll, treibt die Geschichte voran, jenseits des familiären Dramas. Gustav übrigens kommt dem vertrackten Trio bald abhanden – er zieht in den Krieg als Fallschirmspringer.
Setzkasten-Leben
Bossongs Text hat sehr viel Kraft. Wenn er laut gesprochen wird, was oft der Fall ist in Kathrin Mädlers Inszenierung, leidet er allerdings auch ein wenig an der Akustik der kleinen Studiobühne. Regelmäßig sprechen die vier Figuren nach rechts und links in Richtung Bühnenwand. Mancher schöne Satz droht da verloren zu gehen in den Echos überreizter Energien.
Gebückt und eingezwängt lebt das komplizierte Familien-Trio in den kleinen, höhlenartigen Raum-Segmenten des Setzkastens, die natürlich auch die beengten Wohnverhältnisse in Bergarbeiter-Wohnungen herbei imaginieren. Die Böden der Segmente sind flexibel herausnehmbar, und es geht rauf und runter zwischen den Etagen.
Mädlers Inszenierung setzt sehr konzentriert auf die Abstraktion, die dieses starke Bild auch den vergleichsweise realistischen Passagen im Dialog unterlegt. Die Autorin hat der Fabel auch einige signifikante Motive als Motto eingeschrieben: ein bisschen Brecht, ein bisschen Shakespeare, vor allem aber (aus der „Struwwelpeter“-Sammlung und sehr passend) die Geschichten vom „fliegenden Robert“, den der Wind wegweht, weil der Junge bei schlechtem, stürmischen Wetter mit dem Regenschirm auf die Straße ging.
Ein verblüffendes und sehr überzeugendes Stück Regionalgeschichte hat das Oberhausener Theater da in den Spielplan genommen, passend zur Dramatisierung von Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“, die kurz zuvor herauskam. Simin Soraya und Daniel Rothaug, David Lau und Philipp Quest sind ein starkes Quartett – in einer Arbeit, mit der sich das kleine Haus in Oberhausen einmal mehr und unbedingt sehen lassen kann.