Deutschland ist hier vor allem eine Herausforderung für den Zusammenhalt und den Lebenswillen der Familie, für den vor allem starke Frauenfiguren verantwortlich sind. Güçyeter erzählt das fließend und warmherzig in einer oft lyrisch verdichteten Sprache über vier Generationen.
Fließende Erzählung
Der Regisseurin Ruth Mensah gelingt vor allem eine fließende Erzählung, sie schafft Strukturen für das Bühnenleben des Buchstoffes, stellt Dinçer am Anfang alleine auf die weiß gehaltene Bühne von Yuni Hwang, fast nackt. Durch eine schmale Öffnung im mächtigen, weißen Rundhorizont dringen dann die Frauen, die Mütter, in alten Trachten, füllen die Bühne mit Farben und mit ihren Geschichten.
Dinçer erhält die Aufgabe der Emanzipation: Wie kann er selbst hier leben, in diesem Land, mit seiner persönlichen Geschichte? Für diese Perspektive bricht Mensah die chronologische Erzählung des Romans auf, legt die Struktur des Buches offen, aber lässt den Figuren genug Raum, auch genug Humor. Dieser Ansatz funktioniert, weil Alaaeldin Dyab als Dinçer konzentriert und vor allem charmant bleibt, weil Melek Erenay als Fatma eine enorme Präsenz entfaltet und sehr sicher im Timing ist und weil Agnes Lampkin als Großmutter Hanife und Freundin Zeynep so streng und gleichzeitig so gütig ist.
Das Buch erschließt sich auch dem Nicht-Leser
Mensah setzt oft Theatermittel ein, um das Buch für die Zuschauer:innen zu öffnen, schält lyrische Passagen wie Songs aus der Erzählung heraus, lässt ihre Figuren tanzen, verwendet türkische Sprache. Katharina Rehn spielt Yilmaz, Fatmas Mann, stumm mit einer großen Gesichtsmaske, Daryna Mavlenko darf zur E-Gitarre greifen, um den Schluss einzuläuten. All diese, oft surreal gesetzten Mittel ordnen sich in die große Erzählung ein, führen alle auf das Ende zu: die große Versöhnung von Mutter und Sohn. Der Widerspruch von individueller Ausprägung des Lebens und Pflicht wird durch die Ehrlichkeit des Sohnes und die Güte der Mutter aufgelöst, das gleicht fast einer Sozial-Utopie. Das Buch erschließt sich auch dem Nicht-Leser – vielleicht mit Ausnahme der vielen Anspielungen auf Tiere im Text und den Kostümen von Shayenne Di Martino.
„Unser Deutschlandmärchen“ war sicher ursprünglich nicht für die Bühne gedacht, obwohl Dinçer Güçyeter in einem früheren Leben auch Schauspieler war. Seine große Herzlichkeit, die unter anderem dazu geführt hat, dass das Buch nicht „Mein Deutschlandmärchen“ heißt und einen breiteren perspektivischen Anspruch hat, hat es vielleicht nicht ganz auf die Bühne geschafft. Aber diese ungewöhnliche Familiengeschichte lebt trotzdem im Theater Münster, weil es nicht nur „unser“ Land ist, um das es geht, sondern auch, weil wir „diese“ Menschen, die uns vielleicht fremd erscheinen, aus unserem eigenen Leben erkennen. Das hat die Regisseurin mit ihrem Ensemble geschafft und das ist viel!