Sie nimmt sich die Freiheit, eben nicht als großer Wurf daherzukommen. Das Werfen zeigt sie, das wiederholt werden muss oder kann oder will, weil wohl nie das große Ziel getroffen wird. Das wäre? Das wahnsinnig Neue oder totales Zuschauerbeeindrucken? Das zwei-aktige Stück unterwandert also Hoffnungen auf eine bombastische Spielzeiteröffnung. Das macht neugierig, sieht interessant aus, auch wegen des schick wechselhaften Licht-Designs von Landerer und Carsten Lenauer und der Musik von Christof Littmann. Wirklich „great“ sind die zwölf Tänzerinnen und Tänzer, etliche neu in der Kompanie.
Fragezeichen
Was wollt ihr denn? Wo wollen wir hin? Felix Landerer beginnt so seine zweite Spielzeit als Tanzspartenchef am Theater Bielefeld mit Fragezeichen. Oft biegen und schlängeln sich seine Tänzerinnen und Tänzer in eine solche Form. Auch sinken sie häufig zu Boden, wie zerflossen, kauern, kriechen, liegen gar, oder sie lassen hochgeworfene Beine auf den Boden knallen: Dort unten liegt oder steckt der Punkt des Fragezeichens. Keine Antwort. Wer Tanz für erhebend hält oder ihn luftig oder gefühlvoll erwartet: muss nicht so sein.
Ein Mikrofon ist das Sinnbild des Erwartbaren. Jemand wird kommen und da reinsprechen. Es kommt jemand. Hampus Larsson. Spricht. Auf Englisch. „Welcome. Sie sehen wundervoll aus“. Cembalo-Arpeggien unterbrechen ihn. So oft, bis es erwartbar wird, bis wiederum plötzlich Musik einsetzt. Der funktionale Zusammenhalt von Ständer, Kabel und Mikro wird irgendwann schief, löst sich auf. Später tönen auch Sätze aus den Lautsprechern, wie ein innerer Monolog, der sich keiner Person zuordnen lässt und sich zum Glück nicht wiederholt.
Schabernack
Clowneskes vermeidet Landerer. Bei explizit hohen Erwartungen hätte er komische Stürze zeigen können. Höchstens kurzes Kichern ernten einige Szenen. Er spielt mit anderem Unangemessenen: Nichtstun, Stille, Tempi zu verlangsamen, anfallartig anzuziehen, Zusammenhangloses auf die Bühne zu setzen, oder Duette und Trios ohne Dramatik oder Beziehungsmotivation. Man hantiert miteinander herum, hebelt, zwirbelt, zieht und lüpft.
Die Choreografie hält also an, läuft weiter, hält wieder an, scheint zuweilen umzukehren bei dem Körpergliederschlingen. Tänzer:innen bauen sich zu Gruppenbildern, hocken, knien, stehen, geknickt, mit unsichtbaren Dingen in Händen oder Armen, irgendwie beieinander, aber keinen Sinn ergebend. In der Mitte stets eine Figur mit ausgebreiteten Armen, ein visueller Anker. Das Bild zerbröselt, schmilzt, wird wieder aufgebaut, immer eiliger. Wird nie fassbar. Wird penetrant. Wir erwarten, Referenzen in der Kunst zu erkennen oder bedeutsame Variationen, aber scheitern. Jene seitlich gestreckten Arme, waagerecht oder niedriger, mögen samt der frontalen Gesichter an Barocktanz erinnern. Zumal Christof Littmanns Komposition für Orchester und Elektronik teilweise dem Barock huldigt, dessen hier zwischen-musizierte Streicher-Evergreens bestens zu „Erwartungen“ passen mit ihrem Prinzip der Wiederholungen und Modulationen der Tonarten.
Als halbvergessenes Element klemmt Naomi Shirel Turnpu oft in einer hinteren Ecke am Boden. Später gerät sie dann mal in den Mittelpunkt mit Spagat, Händen am Gesicht und mäandernder Wirbelsäule, was sie aus Tel Aviv, vom Choreografen Ohad Naharin, mitgebracht zu haben scheint. Ihr gehört die allerletzte Regung der „Great Expectations“: sich in ein Muster einzufügen, ihre Eigenheit aufzugeben. Sie ist kurz davor.