WAS ERZÄHLT WERDEN MUSS

Die argentinische Theatermacherin Lola Arias wurde am Sonntag in Oslo mit dem International Ibsen Award ausgezeichnet. Eine Entscheidung für ein Theater, das mit der Welt ringt und sich für die Marginalisierten stark macht.

Das Nationaltheater in Oslo hat die argentinische Flagge gehisst. Der International Ibsen Award, der „Nobelpreis des Theaters“, wie ihn die Norweger:innen gerne nennen, wurde am Sonntag an die argentinische Theatermacherin Lola Arias verliehen. Es ist eine überzeugende Entscheidung der Jury: eine Entscheidung für ein Theater, das mit sich und der Welt ringt. In ihrer Dankrede erinnert Arias sich an ihr erstes Stück, das sie im Universitätstheater in Buenos Aires inszenierte. Weil die Decke undicht war, regnete es während der Premiere auf der Bühne und im Zuschauerraum. „Mein fiktionales Theater wurde von der Realität infiltriert“, so Arias. So ist es bis heute.

Preisverleihung an Lola Arias. Foto: Rikke Løe Hovdal.

Inzwischen ist die Durchlässigkeit der Welt gegenüber so etwas wie ihr Markenzeichen geworden. Regnen tut es zwar nicht mehr auf ihren Bühnen, aber Lola Arias hat ihre eigene Art dokumentarisches Theater entwickelt. Aus den Geschichten der Menschen, mit denen sie spricht, entwickelt sie Theatertexte, die sie wiederum von eben diesen Menschen performen lässt. Lola Arias macht Aufführungen mit denen, deren Leben und Erfahrungen sie auf die Bühne bringt, statt nur über sie. „Ihr Theater setzt den Fokus auf die, die nicht hip sind, die zum Schweigen gebracht wurden, die Ausradierten und Marginalisierten“, wie Ingrid Lorentzen, die Direktorin des Osloer Nationalballetts, in ihrer Laudation sagt: „Arias lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was erzählt werden muss.“

Zeit für Vertrauen

In „The Art of Making Money“ holte Arias 2013 in Bremen Obdachlose auf die Bühne, in „Happy Nights“, einer Kooperation mit der Tanzkompanie Unusual Symptoms, arbeitete sie mit Sexarbeiter:innen. „Ich habe keine Methode, außer Zeit miteinander zu verbringen“, erzählt Lola Arias in ihrer Ansprache. „Zeit ist die Währung von Vertrauen. Manchmal habe ich im Probenraum das Gefühl, in den anderen Menschen zu verschwinden, weil ich ihnen so viel zusehe und zuhöre, dass ich sie werde.“ Aus all den Interviews und Gesprächen schreibt sie ihre Stücke, verwandelt das dokumentarische Material in eine Kunstform, die der Realität sehr nahe kommt und doch eine Inszenierung ist. Wie groß das Vertrauen ist, das während dieses intensiven Arbeitsprozesses entsteht, konnte man an diesem Wochenende erleben.

Die Performer:innen ihres Stücks „Los días afuera/The Days Out There“, das in Oslo zu sehen war, haben alle eine Vergangenheit in argentinischen Gefängnissen. 2019 machte Arias einen Workshop mit Gefangenen, aus dem später der Film „Reas“ über ihr Leben im Gefängnis entstand – und schließlich eben jene Performance, die sich mit ihrem Leben zurück in der Freiheit beschäftigt. Es ist bemerkenswert, wie Arias diese Menschen, die nie zuvor Theater gespielt haben oder auch nur im Theater waren, dazu bringt, sich auf der Bühne so professionell und zugleich frei zu bewegen; wie sie erzählen, miteinander agieren, tanzen und singen. Und es ist emotional zu sehen, wie diese Gruppe von Menschen über die Jahre zusammengewachsen ist, wie sie einander den Halt geben, den sie in der Gesellschaft nicht finden konnten. Wie sie sich gemeinsam freuen darüber, dass sie hier sind, dass sie Teil von etwas Großem sind. Auf der Feier im Nationaltheater wirken sie wie eine Familie samt der mit angereisten Kleinkindern.

Darbietung „The Days Out There“. Foto: Rikke Løe Hovdal.

Nachhaltige Veränderungen

Das Theater von Lola Arias macht etwas mit den Menschen. Mit denen, die auf der Bühne stehen, und mit denen, die ihnen dabei zusehen. Es ist nachhaltig in einem Sinne, dass es tatsächlich etwas verändert. Was mit ihren Protagonist:innen geschehe, wenn ein Stück abgespielt sei? „Ihr Leben ist nicht mehr dasselbe. Sie haben ihre Lebensgeschichten neu geschrieben und sie mit der Welt geteilt. Sie haben eine Distanz geschaffen, die es ihnen erlaubt, sich selbst von außen zu sehen. Aber das Leben geht weiter. Was kommt als Nächstes? Alle meine Stücke rekonstruieren die Vergangenheit, aber tatsächlich fragen sie nach der Zukunft“, so Arias in ihrer Rede. „Vielleicht sind diese Stücke ein Versuch, sich eine mögliche Zukunft vorzustellen.“ Denn eine Zukunft kann sich nur vorstellen, wer nicht täglich mit dem Überleben struggelt.

In „The Days Out There“ gibt es eine Szene, in der die Spieler:innen ihre Tattoos aus dem Gefängnis zeigen. Die 26-jährige Yoseli Marlene Arias zeigt einen Eiffelturm, unter dem „Never give up“ steht. Sie war noch nie in Paris, es war immer ihr scheinbar unerfüllbarer Traum. „Ich habe nie aufgegeben“, sagt sie und lächelt: „Und jetzt bin ich in Oslo.“ Und nicht nur das: Sie tourt mit einer erfolgreichen Theaterproduktion durch die Welt. In Avignon haben sie schon gespielt, in Barcelona, Zürich und so weiter. Im November kommen sie nach Berlin ins Gorki Theater. 2017 kam Yoseli Marlene Arias wegen Drogenhandel ins Gefängnis. Der Weg zurück in die Gesellschaft mit einer Vorstrafe ist hart, in Argentinien vielleicht noch härter als in Europa. Zu Beginn der Show stehen alle Performer:innen in schwarzen Abendkleidern an der Rampe, berichten stolz, wie lange sie schon in Freiheit sind. Über 1400 Tage sind es bei Paulita Verónica Asturayme, auch die anderen bewegen sich im vierstelligen Bereich. Das Zählen von den Tagen bis zur Freilassung ist übergegangen in ein Zählen der Tage in Freiheit, ein Zählen der Zukunft.

Raum für Konversation

Lola Arias beginnt ihre Dankrede mit einem Blick in ihr Land, in dem Javier Mileis rechts-außen Regierung gerade „entschlossen ist, Bildung, das öffentliche Gesundheitssystem, die nationale Industrie, Kunst und kulturelle Institutionen zu zerstören, und tausende Menschen in ein Leben unterhalb der Armutsgrenze stößt“. Einfacher wird es nicht werden, Projekte wie ihre dort zu verwirklichen. Gleichzeitiger wird das wichtiger denn je. Denn das Theater könne vielleicht die Echo-Kammer sein, in der wir hören, was in der wirklichen Welt oft überhört werde, so Arias. Ihr Theater, das so genau hinhört und Stimmen auffängt, die sonst untergehen, ist ein Theater der Humanität, das sich dem Inhumanen entgegenstellt. Es ist auch ein Theater, das trotz all seiner Härte Mut macht und das Licht auf die im Dunkeln richtet. Zu sehen, wie sich das Leben ihrer Protagonist:innen aus „The Days Out There“ durch das Theater verändert hat, ist berührend. Wie diese sechs Frauen, Trans-Frauen und -Männer, die am untersten Rand der Gesellschaft standen, nun auf internationalen Theaterbühnen stehen und selbstbewusst von ihren Schicksalen erzählen; wie sie aufblühen und Hoffnung schöpfen. Dieses Theaterwochenende in Oslo fühlt sich an wie ein kleines Wunder in diesen Zeiten, in denen sich das politische Klima überall verschärft, nicht nur in Argentinien.

Lola Arias während ihrer Dankrede. Foto: Rikke Løe Hovdal.

Die größte Herausforderung sei es, so Arias, zuzuhören. Bilder an sich heranzulassen, die man sich am eigenen Schreibtisch nicht hätte ausdenken können; die Welt hereinzulassen; die Augen nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen. Oder, wie Ingrid Lorentzen es in der Laudatio formuliert: „Arias, ihre wundervollen Darsteller:innen und ihr Team haben die Kraft des Theaters gefeiert, auf einem Raum für Konversation in einer globalen Gesellschaft und politischen Realität zu beharren, in der es zu oft darum geht, solche Räume auszuradieren.“