Porträt Tuğsal Moğul

DER FAUST-Nominierung für „And How Hanau“ von Tuğsal Moğul

Mit „And Now Hanau“ ist Tuğsal Moğul für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2024 in der Kategorie „Inszenierung Schauspiel“ nominiert. In seinen dokumentarischen Theaterarbeiten setzt er sich mit Migration, Rassismus und Rechtsextremismus auseinander. Oft arbeitet er für seine Inszenierungen mit Betroffenen zusammen. Im Interview spricht der Regisseur über Realität im Theater, seine politische Motivation und die szenische CORRECTIV-Lesung am Berliner Ensemble.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was schauen Sie sich gerne im Theater an?

Tuğsal Moğul: Meine Eltern sind in den 60er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ich bin bikulturell großgeworden, habe viel von dem mitbekommen, was in der Türkei passierte, eher gesellschaftlich als kulturell. Mich hat als Jugendlicher erstaunt, was in den 80er und 90er Jahren an deutschen Theatern möglich war. Da wurden oft Klassiker gespielt, aber ich konnte sie mit meinem Leben, meinen Erfahrungen in Relation setzen: Inszenierungen von Shakespeare, Büchner und vor allem Tschechow. Der Unterschied zu Heute ist, dass man sich damals eher Überhöhungen angeschaut hat. Das hat sich geändert. Mittlerweile erscheint  das wirkliche Leben wie eine Inszenierung. Die Stärke des Theaters liegt für mich immer mehr im Dokumentarischen, dort läßt man dem Realismus nun der Vortritt.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Im Interview mit der Frankfurter Rundschau sagten Sie, dass Sie den Begriff „Dokumentartheater“ nicht mögen. Was stört Sie daran?

Tuğsal Moğul: Das hat oft etwas Aufklärerisches. Das klingt analytisch, mit Fingerzeig und ist für mich kein Türöffner. Aber natürlich gibt es sehr gutes Dokumentartheater, zum Beispiel von Milo Rau oder Rimini Protokoll.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wann wissen Sie, ob eines Ihrer Stücke reif ist?

Tuğsal Moğul: Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob meine Arbeit zu „And Now Hanau“ zum richtigen Zeitpunkt kam. Die Angehörigen der Opfer waren noch traumatisiert als ich den Kontakt am ersten Jahrestag nach dem rassistischen Anschlag in Hanau zu ihnen aufnahm. Ich habe die Familien mit der Initiative 19. Februar Hanau zwei Jahre begleitet und Schritt für Schritt ihr Vertrauen gewinnen können. Die Uraufführung von „And now Hanau“ im Rathaus bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen im Mai 2023 war für alle sehr aufwühlend. Beim Schlussapplaus lagen sich die Angehörigen und die Schauspieler:innen weinend in den Armen. Es war mehr ein Gottesdienst als eine Premiere. Die Angehörigen haben berechtigte Befürchtungen, dass ihr Leid von den Medien und der Kultur benutzt wird. Es gibt immer wieder skurrile Anfragen, zum Beispiel ein Musical über Hanau zu machen. Ohne ihre Erlaubnis wurde ein Horrorfilm über die Ermordung ihrer Kinder gedreht. Es waren die Angehörigen, und die Initiative 19. Februar, die akribisch recherchiert und herausgefunden haben, was in Hanau desaströs falsch gelaufen ist: Zum Beispiel der verschlossene Notausgang und die kaputte Notrufanlage 110 der Hanauer Polizei. Trotzdem sind alle ihre Anzeigen und Ermittlungen eingestellt worden, niemand hat die Verantwortung übernommen. Meine Theaterarbeit ist nur der verlängerte Arm dieser Recherchen. Letztendlich liegt es in unserer Hand als Kunstschaffende, das Gedenken aufrecht zu erhalten. Die einzigen, die immer wieder die Finger in die Wunde legen, sind vor allem die Angehörigen. Ausstellungen wie die von Rechercheagentur Forensic Architecture „Three doors“ oder unser Theaterstück unterstützen diesen Prozess.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Treffen sich für Ihre Inszenierungen die Betroffenen und die Darsteller:innen?

Tuğsal Moğul: Bei meinem eigenen Ensemble Theater Operation habe ich Praktika für die Schauspieler:innen organisiert. Die mussten eine Schweigepflicht unterschreiben, konnten dann aber im Krankenhaus arbeiten. Sie haben im OP und auf der Intensivstation hospitiert. Sie haben gesehen, wie die Patient:innen einschlafen und aufwachen, was für Komplikationen während der OP möglich sind und wie der klinische Alltag funktioniert. Wir sind als Team vor den Proben diesen Weg gegangen und das macht natürlich ganz andere Türen auf, als das alles nur nachzuerzählen. Für „And Now Hanau“ sind wir als Team zur Initiative 19. Februar nach Hanau gefahren und haben mit den Angehörigen gesprochen.

Darsteller:innen in „And now Hanau“ im Sitzungssaal des Ratahuses in Recklinghausen„And Now Hanau“ © Betina Stöß

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Möchten Sie durch Ihre Theaterarbeit politisch etwas bewirken?

Tuğsal Moğul: In der Theaterarbeit fühle ich mich sicher. Das Werk spricht für sich und ist politisch. Ich scheue zwar den Begriff Heimat, bin aber in Westfalen groß geworden und fühle mich daher für die gesellschaftlichen Veränderungen in diesem Land verantwortlich. Leute, die andere Namen tragen als Peter, Jürgen oder Hannelore, sind genauso in Deutschland beheimatet.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie fanden Sie die szenische CORRECTIV-Lesung am Berliner Ensemble?

Tuğsal Moğul: Die CORRECTIV-Lesung war nur ungefähr eine Woche nach dem Ereignis in der Potsdamer Villa. Meiner Meinung nach war das ein sehr ambitioniertes Projekt. Am meisten haben mich eingebaute Schauspielwitze geärgert. Was haben die dort verloren? Sie hätten einfach die aufgezeichneten Texte nehmen und eins zu eins eine Lesung ohne Klimbim machen sollen. Solche Überhöhungen brauchen wir nicht. Das war das Berliner Ensemble, gute Schauspieler:innen, aber ich fand es sehr eitel. Die Hauptrolle sollten die in der Villa von CORRECTIV recherchierten Reden spielen. Deniz Yücel hat die Lesung und „And Now Hanau“ gesehen und dazu ein sehr lesenswertes Essay geschrieben.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Hatte die CORRECTIV-Lesung als kurzfristige Reaktion trotzdem eine Wirkung?

Tuğsal Moğul: Ich weiß nicht, ob Theater die Mittel hat, so schnell zu reagieren. Das Theater hat noch mehr Kraft, nicht alle Themen müssen verändert werden. Theater atmet nicht so schnell, ein wenig mehr Zeit, Schlichtheit und Ruhe tut der Sache gut.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie sehr kann Theater die Realität abbilden?

Tuğsal Moğul: Mein erster Theaterhafen, in dem ich mich zuhause gefühlt habe, war das Ballhaus Naunynstraße in Berlin, später das Gorki Theater. Dort wurden selbstverständlich Themen bearbeitet, in denen ich mich wiedergefunden habe. Nachdem ich 1997 die Schauspielschule in Hannover beendet hatte, war ich in verschiedenen Stadt- und Staatstheatern als Schauspieler tätig. Ich habe Ensembles erlebt, wo immer wieder rassistischen Äußerungen und Witze in den Kantinen gemacht wurden. Die Begründung war: „Du weißt ja, wie ich es meine!“ Nicht alle deutschen Theater haben Kultursensibilität auf ihrer Agenda stehen. Aber die Zeiten ändern sich zum Glück.

DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sind es noch die Klassiker, mit denen Sie sich identifizieren?

Tuğsal Moğul: Das kann ich nicht genau sagen. Im Laufe der Jahre habe ich immer mehr ein Problem mit den Spielplänen der Theater bekommen. Die Ensembles im deutschsprachigen Raum waren lange Zeit sehr weiß. Das ändert sich gerade. Mich erschreckt nur, dass es so lange dauert. Das Theater schmückt sich damit, dass es diverse Positionierungen und Themen viel früher als die deutsche Mehrheitsgesellschaft aufs Tablett legt. Das finde ich nicht, im Gegenteil. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich innerhalb der letzten 40 Jahren stark verändert. Wenn ich als Arzt im Krankenhaus arbeite, operiert ein chirurgischer Oberarzt aus Kamerun, der seit 35 Jahren hier lebt, die OP-Schwester ist gebürtig aus Korea, die Assistenzärztin kommt aus Syrien, die Anästhesieschwester stammt aus Kroatien und ich mache die Narkose. Der einzige, der vielleicht noch biodeutsch ist, ist der Patient auf dem OP-Tisch. Und was passiert in Deutschland? Was passiert nach dem aktuellen Anschlag in Solingen? Die Grenzen sollen wieder hochgezogen und dichter werden. Und was ist damals nach dem 19. Februar 2020 in Hanau passiert? Sind Rechtsextreme gestoppt und aus dem Land vertrieben worden? Nein, der Vater des rassistischen Attentäters hört sich wahrscheinlich wie sein Sohn damals die Reden von Björn Höcke an. Der Vater lebt immer noch in Hanau und bedroht und beschimpft weiter rassistisch Opferangehörige.