Foto: Christina Weiser (Prof. Dr. Blankenburg) und Günther Harder (Dr. Bozic) stehen vor schwierigen Entscheidungen. © Sylwester Pawliczek
Text:Jens Fischer, am 5. Oktober 2024
Das Staatstheater Kassel stellt sein Publikum mit der deutschen Erstaufführung von Maya Arad Yasurs Stück „Triage” vor ein Dilemma um Leben und Tod – mit großem Erfolg.
Nur mal vorgestellt, der weit und breit einzige Arzt hat nur noch eine Gegengiftspritze und vor ihm winden sich in tödlichen Krämpfen der örtliche AfD-Vorsitzende, ein wegen Drogenhandel vorbestrafter Mann aus Guinea, eine schwer an Multipler Sklerose Erkrankte, die 88-jährige Rentnerin von gegenüber und der junge, gerade Vater geworden Altenpfleger, der in seiner Freizeit jugendliche Geflüchtete unterstützt. Wen rettet der Arzt, wen lässt er sterben? Schon sind wir mittendrin in der ethischen, philosophischen, politischen, medizinischen und juristischen „Triage“-Debatte.
In den Corona-Jahren wurde das anhand der letzten verfügbaren Beatmungsgeräte diskutiert. Da von der Pandemie wohl kaum einer noch etwas hören möchte, übernimmt Maya Arad Yasur die Geräte für ihr Stück „Triage“ in eine fiktive Ausnahmesituation: eine durchs Land ziehende Feuerwalze sorgt für Überforderung in Krankenhäusern.
Die israelische Autorin hat es sich noch nie leicht gemacht, schrieb über den Holocaust, Terrorismus, Krieg, Gefangensein und Flucht. Meist findet sie einen kunstvoll leichten, verblüffend humorvollen Umgang mit ihren Themen – in doppelbödigen, dramatischen Konstruktionen. So auch in „Triage“.
Wie im Fernsehen
Die deutschsprachige Erstaufführung am Staatstheater Kassel eröffnet Regisseur Josua Rösing wie eine Krankenhausserie: Videobilder smart blickender Götter in Weiß sind zu sehen, badend in schlimmer Synthetik-Musik. In steriler Grelle stehen Wasserspender, Sitzmöbel und ein Gummibaum auf dem Spielpodest, vier Jalousien erwarten die Projektion surrealisierender Zwischenspiele. Die Darsteller haben ihre im Rohbau-Modus ausformulierten Rollen fest im Griff. Lächelnd versucht die Chefärztin (Christina Weiser) souverän zu bleiben. Wie ein Screwball-Comedy-Paar umschwirren sich rastlos Dr. Bozic (Günther Harder) und Dr. Majewski, für die Lisa Natalie Arnold mit ironisch-erotischen Anbaggertänzen amüsiert und mit so bodenständigen wie herzglühenden Vernunftausbrüchen beeindruckt.
Wie in TV-Serien verbindet die Handlung Berufliches und Privates. Dr. Bozic muss erkennen, dass er die Nichtliebe zu seiner offiziellen Freundin mit einem unbedingten Kinderwunsch kompensiert. Die Affäre mit der Kollegin ist wohl die Liebe seines Lebens. Die hat aber schon Kinder und leidet an der Rolle der alleinerziehenden Mutter. Während der Chefärztin der Ehemann in die Demenz einer Parkinsonerkrankung entgleitet. Verlassen oder pflegen? Hinzu gesellen sich ein Bote für die schlechten Nachrichten aus der überfüllten Notaufnahme sowie eine Hysterikerin mit tränennass glänzendem Gesicht und der beeindruckend körperlos agierende Kopfmensch Edgar. Beide wollen unbedingt ihre Angehörigen beatmet wissen.
Fragen über Fragen
„Wir haben jedem Menschen gegenüber die gleiche Verantwortung“, sagt die Chefin. Aber wie eine Auslese treffen, was das französische Wort Triage bedeutet? Auswürfeln? Nach Alter selektieren, nach Systemrelevanz oder Überlebenschance der zu rettenden Personen? Aber wie misst man präzise die Wahrscheinlichkeit des Überlebens? Darf das Anrecht auf Weiterleben überhaupt kategorisiert werden? Mit ins Beispielhafte verdichteten Situationen werden all diese Aspekte angerissen und auf die entscheidenden Fragen zugespitzt.
„Triage“ wirkt wie ein Theaterseminar als Impulsbeitrag für den Austausch auf einer Mediziner-Tagung. So betont der Kasseler Abend nicht den Realismus der Vorlage, sondern die Künstlichkeit des Theaterspiels und damit auch die eingebaute Möglichkeitsebene, das Stückpersonal befinde sich in einem „Realitätsmodell zur Simulation von Entscheidungsprozessen“. Antirealistisch wird also zum Telefonieren nie ein Smartphone zur Hand genommen, sondern ins Publikum gesprochen. Auf die Frage, inwieweit Triage die natürliche Auslese innerhalb der Gesellschaft fördere, wird Abbas „The winner takes it all“ intoniert, was nicht in der Vorlage steht. Zudem übertönt der Medizinerchor im Juristenjargon eingesprochene Triage-Anweisungen. Und am Ende stehen alle im Nebel der Ratlosigkeit. Die Chefin muss feststellen, dass ihr Mann gerade eingeliefert wurde, einen Respirator braucht, aber keiner mehr frei ist. „Sie erwarten etwas von mir zu hören … aber was kann ich sagen?“ Das finale Fragezeichen ist das Aufforderungszeichen, selbst eine Position zu entwickeln.