Dabei lässt er gar nicht erst Zweifel darüber aufkommen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. „The Times Are Racing“ nennt sich der neue Abend nach dem Ballett, mit dem er nach zweieinhalb Stunden schließt. Und um einem vor Augen zu führen, wie sich die Zeiten verändert haben, dreht Volpi das Rad erst einmal um die fünfzig Jahre zurück, in der auch das Hamburger Ballettwunder seinen Anfang nahm: Das „Adagio“ entstammt einem Stück von Pina Bausch, das 1974 unter dem Titel „Adagio – Fünf Lieder von Gustav Mahler“ in Wuppertal uraufgeführt wurde. Demis Volpi hat es in Zusammenarbeit mit der Pina Bausch Foundation und Jo Ann Endicott eigens für sein Hamburg-Debüt rekonstruieren lassen, um zu zeigen, was seinerzeit auch anders möglich war.
Hoffnungslos
Eine geniale Wahl nicht nur deshalb, weil Mahler selbst einmal am Hamburger Opernhaus als Erster Kapellmeister bis heute gültige Aufführungsstandards setzte, sondern weil nicht zuletzt John Neumeier dessen Oeuvre eine unverwechselbare Bühnengestalt gab. Bei Bausch ist nicht grundsätzlich alles anders. Man hat durchaus den Eindruck, dass manche Schritte so auch in Hamburg entstanden sein könnten. Doch der hohe Raum, den Karl Kneidl einst mit grauem Nessel auskleidet, hat nichts Lichtes wie so oft bei Neumeier.
Und die Tänzer und Tänzerinnen wirken selbst bei der größten Bewegtheit vereinsamt. Keine Hoffnung, nirgends. Und wenn Einzelne doch einmal aufeinandertreffen, dann nur für einen Augenblick. Alle scheinen irgendwie auf der Flucht – vor sich selbst oder vor einem drohenden Schicksal. Es ist zum Verzweifeln, und wenn sich im Ersten Satz aus Mahlers Zehnter die Akkorde häufen, erstarren alle. Später lässt eine Gruppierung im Hintergrund durchaus an einen Todesmarsch denken. Und am Ende rennt Larmaigne Bockmühl um ihr Leben, während längst der Vorhang fällt: ein Bild, das man nicht mehr so schnell vergisst.
Das Ungleiche im Gleichen
Nichts anders die „Variations for Two Couples“ von Hans van Manen, mit denen sich der Meister aus Holland wie auch die anderen zum ersten Mal in Hamburg vorstellt. Choreografiert zu ganz gegensätzlichen Kompositionen von Britten bis Piazzolla, zeigt er im scheinbaren Gleichen das Ungleiche. Im ersten Moment wirken die beiden Paare identisch, auch weil Keso Dekker sie in zwar anonyme, aber durchaus attraktive Trikots hüllt. Aber je länger Madoka Sugai, Alexandr Trusch, Ida Praetorius und Matias Oberlin tanzen, desto deutlicher treten ihre Eigenarten hervor.
Oft ist es nur eine Geste, ein Blick, die Stellung des Kopfes, die etwas über das Innerste der Interpreten verrät. Eine Position im Raum, die aller Abstraktion zum Trotz so viel über die unausgesprochenen Beziehungen zwischen den vieren besagt. Man muss nur genau hinschauen. So wie van Manen choreografiert, pointiert, mit unverhohlener Sinnlichkeit und nicht ohne Witz, lehrt er uns die Lust zu Schauen.
Verzweiflung zur Schönheit
„The thing with feathers“ im Anschluss lädt erst einmal zum Hören ein. Richard Strauss hat seine „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ nach Kriegsende 1945 aus einem Gefühl der Verzweiflung heraus geschrieben, ein Trauergesang, der Trost findet in einer sich schwelgerisch verströmenden Schönheit, die sich kaum fassen lässt. Demis Volpi hat dennoch versucht und vor gut einem Jahr in Anlehnung an ein Gedicht von Emily Dickinson in Düsseldorf ein Ballett geschaffen, das letztlich so etwas wie Hoffnung thematisiert. Als wär’s ein Stück von Marco Goecke, mit dem er seinerzeit in Stuttgart viel zusammengearbeitet hat, treten die Tänzer und Tänzerinnen zunächst immer wieder aus dem verschatteten Hintergrund heraus, in dem sie zwischendurch verschwinden – als wollten sie Halt suchen im Fluss der Zeit.
Ein Stück weit erinnert das Ballett an „Vergessenes Land“ von Jirí Kylián, den es ebenfalls noch in Hamburg zu entdecken gilt. Und langsam senkt sich im Hintergrund ein Bild, das man à la Nolde als Meereslandschaft mit dräuenden Wolken deuten könnte, vor dem sich starken Solo-Tänze von Jack Bruce und Alessandro Frola trotzig abheben.
Turnschuhballett
Ein Stück, das Hoffnung macht, auch für Volpis Weiterkommen, und gut überleitet zu dem „Turnschuh-Ballett“, das dem Abend den übergreifenden Titel gibt. Justin Peck hat es 2017 für das New York City Ballet choreografiert. Man merkt das: Es ist so amerikanisch, wie Tanz nun mal sein kann. Perfekt dazu passend die Musik „USA I -IV“ aus dem „America“-Album von Don Deacon, die den treibenden Drive vorgibt. Peck lässt denn auch gleich zu Anfang das knallbunt kostümierte Ballett wie eine Dolde aufblühen, und findet auch in der Folge immer wieder verblüffend bildhafte Sneakers-Szenen, die auch bei einer Broadway-Show für Jubelstürme sorgen würden.
In Hamburg ist das Premierenpublikum jedenfalls ganz aus dem Häuschen und dankbar für die frische Brise, die das Ensemble auf originelle Art durcheinander wirbelt. Die Zukunft des Hamburg Balletts ist jedenfalls gesichert und der Übergang von Neumeier zu Volpi geglückt.