Foto: Ensemble-Finale auf dem Leichenberg © Matthias Jung
Text:Ulrike Kolter, am 14. September 2024
Das Theater Bonn eröffnet die Schauspielsaison mit einer starken Uraufführung von Lothar Kittstein: „216 Millionen” ist die prognostizierte Zahl von Geflüchteten, die im Jahr 2025 aus Klimagründen ihre Heimat verlassen haben. Volker Lösch inszeniert die überspitzte Geschichte um eine fiktive Klimakonferenz schrill und chorisch – mit dem Bonner Ensemble und vier Geflüchteten.
Das Schlussbild ist eine gelungene Zumutung, so wie der ganze zweistündige Abend uns viel zumutet an Lautstärke, gesellschaftspolitischen Diskursen, auch an Klischees. Da liegen in weiße Plastiksäcke verschnürte Leichen in Reihen, minutenlang hat das akkurate Zurechtlegen gedauert. Als dann die zehn Schauspielenden längst gegangen ist, mag noch keiner im Publikum so recht klatschen. Eben noch da war große Tanzparty auf einem angehäuften Berg dieser mahnenden Körper. „Migration hat sich und wird sich immer selbst steuern!“ skandierten sie im Namen der „216 Millionen” Geflüchteten, die Lothar Kittstein in seinem neuen Stück am Theater Bonn zu Wort kommen lässt.
Zum vierten Mal hat Volker Lösch mit Kittstein gearbeitet, wieder ist ihm eine dringliche, unbequeme Inszenierung gelungen. Und erneut arbeitet er chorisch mit einem Ensemble aus Profis (vom Bonner Schauspiel) und Betroffenen, diesmal mit vier Geflüchteten: Nadia Feyzi aus Afghanistan, Kayci Feyzi aus Afghanistan und dem Iran, Pizzar Stanley Pierre aus Haiti und Sadou Sow aus Guinea.
Persönliche Fluchtgeschichten prallen auf Weltpolitik
Die Dreiteilung des Abends lässt Welten aufeinanderprallen: In einer ersten halben Stunde erzählen Nadia Feyzi, Kayci Feyzi, Pizzar Stanley Pierre und Sadou Sow mit starren Blicken ihre Fluchtgeschichten, brüllen sie uns im Wechsel aus chorischen und Einzelpassagen entgegen. Keine Intonation, keine Sprechpausen: eine laute, gleichförmige Anklage.
Da ist Nadia, die aus Afghanistan geflohen ist, wo es bei 52 Grad nur ein Glas Wasser pro Tag gab und wo die Taliban ihr die kleine Schwester auf dem Arm erschossen hatte. Da ist Kayci Feyzi, ihre Tochter, die allein aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland kam, in Kinderheimen getrennt von ihrer Mutter, weil keine Behörde glaubte, so eine junge Frau könne ihre Mutter sein. Da ist Pizzar Stanley Pierre, dessen Familie seit Generationen eine Kakaoplantage in Haiti hatte, bis durch Hitze und Hurrikane die Erde unfruchtbar wurde. Und weil Haiti kein Gesetz gegen sexuelle Minderheiten hat und er wegen seiner Queerness verfolgt wurde, floh er. Und da ist Sadou Sow aus Guinea, wo sich die Strohdächer der Häuser vor Hitze selbst entzünden, während die Reichen ihre Pools mit Grundwasser befüllen.
Die private Klimakonferenz von Net
Perspektivwechsel: Zu Shakiras Gute-Laune-WM-Hit „Waka Waka (This Time for Africa)“ geht’s in die europäische Welt, die sechs Darsteller:innen des Bonner Ensembles schieben in knallbunten Anzügen eine riesige Käfig-Konstruktion mit EU-Sternen nach vorn (Bühne: Valentin Baumeister, Kostüme: Teresa Grosser). Wir befinden uns auf einer privat finanzierten Klimakonferenz, zu der Energiemagnat Nat (göttlich als schmieriger Egomane: Daniel Stock) geladen hat. Hier prallen die Stereotype überzeichnet aufeinander.
Der unsichere Wissenschaftler Paul (Paul Michael Stiehler) will die Welt mit seinem „Superscreen“ retten, ein regulierbarer Sonnenschutz aus dem All, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Seine Frau Elena, Anwältin für Menschenrechte (Sophie Basse) prangert wie ihre junge Aktivistin (Imke Siebert) die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) an, das die EU im April diesen Jahres tatsächlich verabschiedet hat. Dass Lothar Kittsteins Uraufführung schon fünf Monate später auf die Bühne kommt, ist ein Coup.
Genauso schrill wie Veranstalter Net ist die EU-Politikerin Nicola, die Lydia Stäubli ganz herausragend als affektierte Ursula von der Leyen-Karikatur gibt, mit ihren acht Kindern prahlt und grinsend Politikerphrasen herumheuchelt. Völlig ins Absurde kippt die Konferenz durch eine Kannibalismus-Performance des Künstlers Serge (Alois Reinhardt) und alles kulminiert im gebrüllten Spektakel bis in den Zuschauerraum hinein…
Zur physischen Höchstleistung aller Beteiligten wird dieser zweite Teil, weil der riesige Käfig im Spiel ununterbrochen beklettert wird, auf und ab und quer, so dass einem angst und bange wird, wenn die Sicherheitsgurte der Hängenden im Tempo gelöst und neu verklickt werden. Dafür gebührt dem Ensemble Hochachtung! Wie sie umherklettern, rumhängen und doch ihr Leben nur scheinbar abgesichert ist – dafür gibt die Bühne von Valentin Baumeister ein ebenso starkes Bild wie es die Käfighaltung Geflüchteter assoziiert.
Die finale Konfrontation
Im Finale endlich mischt sich das Ensemble komplett, alle zehn stapfen in funkelnder Abendgarderobe über Leichensäcke, chorisch prallen politische Meinungen aufeinander. Was ist Deutsch? (Wurst, Bier und Goethe), Turnhallen für Schulsport oder als Flüchtlingsunterkünfte? So einfach, wie das Stück die Welt in Gut und Böse aufteilt, ist es leider nicht. Das Geld den Superreichen wegnehmen und an die Kommunen verteilen, weil doch genug Geld für alle da wäre? Kittsteins Text steckt voll kluger Sprachspiele, böser Wahrheiten und prangert Vieles zu Recht an. Aber Politiker-Bashing hilft uns nicht unbedingt weiter. Trotzdem ein starker, wichtiger Abend, der im geglückten Mix aus persönlichen Geschichten und zugespitzter Fiktion aufwühlt.