Hamburg Ballett: Demis Volp setzt auf Vielfalt
Keine Angst also: Neumeier geht uns auch nach 51 Jahren Hamburg Ballett nicht verloren. Aber sein Nachfolger tut gut daran, erst mal an andere Sprachen des Körpers zu erinnern, die den sonst so polyglotten Hamburgern vielleicht weniger geläufig sind. Demonstrativ setzt er zu Beginn seiner Intendanz mit der Rekonstruktion von Pina Bauschs „Adagio“ ein Zeichen und fordert das Publikum mit Neumeiers Mahler-Interpretationen, die so ganz anders sind als die der legendären Tanztheater-Ikone aus Wuppertal, zur Auseinandersetzung. Dazu beispielhaft so unterschiedliche Beiträge wie von Aszure Barton, William Forsythe, Hans van Manen und Justin Peck, bevor sich Volpi selbst ans Werk macht. Hermann Hesses „Demian“ will bewältigt werden: Hier muss ein vielschichtiges, aussagekräftiges Bewegungsvokabular gefunden werden.
Demis Volpi ist nicht der einzige Direktor, der sich 2024 einer neuen Herausforderung stellt. Kinsun Chan zum Beispiel war zuvor in St. Gallen, also an einem verhältnismäßig kleinen Theater tätig und muss künftig die Größe der Dresdner Semperoper bewältigen. Wohl nicht zufällig thematisiert er in „Wonderful World“ seine Bewährungsprobe gemeinsam mit Martin Zimmermann als einen Balanceakt, der über das physische Geschehen hinaus zum Abbild einer ins Wanken geratenen Gesellschaft wird. Festen Boden unter den Füßen gewinnt das Ballett erst wieder mit Neumeiers „Nijinsky“ und mit „Tag Team – Phase 1“ von Julian Nicosia, Francesca Frassinelli und Giovanni Insaudo für das 200-jährige Ballettjubiläum. „Vice Versa“ nennt sich das nachfolgende Programm: Wagemutig vereint es die Widersprüchlichkeit des Seins in „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui und einer mit Spannung erwarteten Uraufführung des niederländischen Geschwisterpaares Imre & Marne van Opstal. Letzteres teilt sich zuvor schon unter dem Arbeitstitel „Broken Bob“ am Hessischen Staatsballett Darmstadt/Wiesbaden einen Doppelabend mit der chinesischen Erfolgschoreografin Xie Xin.
Die Schröder-Geschwister müssen gehen
Ein anderes Geschwisterpaar hat das Nachsehen: Allen Erfolgen zum Trotz wurden die Verträge von Mario und Silvana Schröder nicht verlängert. An ihre Stelle rücken Leute aus den eigenen Reihen: beim Leipziger Ballett der ehemalige Solist Rémy Fichet, der dem Haus zuletzt als Künstlerischer Produktionsleiter verbunden war, am Theater Altenburg Gera der langjährige Trainings- und Ballettmeister Vitaliy Petrov. Beide setzen auf Handlungsballette. Während Fichet für Leipzig eine Neufassung von „Romeo und Julia“ annonciert (in der Choreografie der hierzulande noch gänzlich unbekannten Amerikanerin Lauren Lovette) und „Die Mondprinzessin“ von Martin Chaix, beide flankiert von einem Evergreen wie den „Scholz-Symphonien“ sowie einem hoffentlich progressiven Abend mit Kreationen von Sofia Nappi und Louis Stiens, greift Petrov beim Thüringer Staatsballett erst einmal auf eigene Erfahrungen zurück: Er choreografiert „in Anlehnung an Marius Petipa“ wohl eher ein traditionelles „Dornröschen“, während sich sein Gast Jiˇrí Bubeníˇcek am Leben und Wirken von Sergej Rachmaninow abarbeitet. Und so etwas gibt es auch: einen „Nussknacker“ unter dem Titel „Clara und die Kristallkugel“ als Werkstattproduktion der Eleven des Thüringer Staatsballets.
Ein weiterer Wechsel könnte spannend werden, wenn auch aus unerfreulichem Grund: Kurz vor Ende der letzten Spielzeit wurde Xenia Wiest von ihrer Funktion als Leiterin der Company Ballett X Schwerin „freigestellt“, wie es in der Pressemitteilung heißt. Die gebürtige Russin habe „mehrfach gegen Pflichten ihres Arbeitsvertrages und für alle Mitarbeitende gültigen Normen des Bundesverfassungsgesetzes verstoßen“. Selbst wenn die Auseinandersetzungen nicht abgeschlossen sind und womöglich ein juristisches Nachspiel haben: Xenia Wiest kehrt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr ans Mecklenburgische Staatstheater zurück. Ballettmeister Jonathan dos Santos übernimmt kommissarisch das Kommando und gestaltet statt ihrer zumindest den „Winter“-Satz in den „Four Seasons Recomposed“.
Bridget Breiner startet beim Ballett am Rhein
Weniger geräuschvoll vollzieht sich der Übergang in Düsseldorf/Duisburg, Essen und Karlsruhe. Chefchoreografin Bridget Breiner, die sich beim Ballett am Rhein künftig die Leitungsbefugnis mit Direktor Raphaël Coumes-Marquet teilt, lässt selbstverständlich den „Krabat“ ihres Vorgängers Demis Volpi im Repertoire. Und wie ihr Stuttgarter Kollege Tamas Detrich setzt sie auf große Meister, um sich zwischendurch mit „Ruß“ und zwei Kreationen dem Vergleich zu stellen. Ähnlich Raimondo Rebeck am Badischen Staatsballett Karlsruhe, der sich aus Hamburg Kristina Paulin als Hauschoreografin ins Boot holt. Er bringt auch weiterhin „Das Mädchen & Der Nussknacker“ von Bridget Breiner zum Tanzen. Nicht anders die neue Doppelspitze beim Aalto Ballett Essen. Armen Hakobyan und Marek Tu˚ma kündigen mit „Carmen“ von Johan Inger und „Cinderella“ von Jean-Christophe Maillot zwar zwei Neuproduktionen an. Aber deshalb müssen nicht die Choreografien von Ben Van Cauwenbergh vom Spielplan verschwinden.
Und Marco Goecke?
Und wo bleibt Marco Goecke, den nicht nur hierzulande viele für einen der kreativsten Köpfe der Ballettszene halten? Natürlich weiß man, dass er in einem Jahr am Theater Basel Adolphe Binder ablösen wird. Auch ahnt man, dass er in der Werkstatistik für die vergangene Saison nicht mehr wie im Jahr zuvor nach Neumeier als Nummer zwei unter der Rubrik „Die beliebtesten Choreograf:innen“ rangieren wird. Aber ab der kommenden Spielzeit ist er wieder weltweit präsent. Auch in Deutschland mag man auf seine Arbeiten nicht länger verzichten. In Nürnberg soll er Strawinskys „Scènes de ballet“ neu deuten. In Stuttgart hofft Eric Gauthier auf einen Beitrag zum Theaterhaus-Jubiläum – und setzt im Übrigen auf Akram Khan und Barak Marshall, den neuen Artist of Residence.
Aufregend wird es zu Saisonende am Münchner Gärtnerplatztheater, wenn sich Goecke endlich an den „Sacre“ wagt. Und als Wuppertaler in Konkurrenz zu Wahl-Wuppertalerin Pina Bausch tritt, deren „Frühlingsopfer“ nebenan beim Bayerischen Staatsballett zusammen mit Werken von Sidi Larbi Cherkaoui und Jirí Kylián auf dem Programm steht. Das Premierendatum sollte man sich merken! Und den 5. Juni 2025 gleich mit, falls es sich bewahrheiten sollte, dass William Forsythe für die Dresden Frankfurt Dance Company eine Uraufführung beisteuert. Das wäre eine echte Sensation: Seit dem Ende der Forsythe Company vor einem Jahrzehnt hat der Amerikaner nichts mehr in Deutschland choreografiert.