„The Talking Car“ beim Showcase „Generation After“

Das Nachwuchsfestival „Generation After“ in Warschau

Die Demokratie erlebt in Polen derzeit eine Renaissance. Was das für die Theaterästhetik junger Theatermacher:innen der Landes bedeutet, untersucht Dorte Lena Eilers beim Festival Generation After am Nowy Teatr in Warschau.

„Die Wahrheit ist, dass das Theater die Welt nicht verändern wird.“ Herrscht Katerstimmung in Warschau? Das fragt sich, wer den Programmtext des Generation After Showcases in die Hände bekommt, eines Festivals junger performativer Künste, organisiert vom Warschauer Nowy Teatr. Dabei klingt der Name, Generation After, gerade dieser Tage wie ein Aufbruch. Die Generation danach, damit könnte eben auch die Generation nach den Parlamentswahlen gemeint sein, bei denen am 15. Oktober 2023 die seit acht Jahren regierende rechtspopulistische PiS-Partei abgelöst wurde, die mit progressiven Künstlerinnen und Künstlern nicht gerade zimperlich umging. Die Welt ist also doch veränderbar! Denken wir, denen uns, aus Deutschland kommend, die Wahl in Thüringen und Sachsen noch im Nacken sitzt. Europa driftet nach Rechtsaußen. Polen – derzeit zumindest – nicht.

Junges Festival mit Tradition

Der Generation After Showcase, 2017 am Nowy Teatr gegründet, ist wie so viele Festivals in Polen, wie so viele Theater, Museen, Kulturveranstaltungen, immer ein Austragungsort politischer Gemengelagen gewesen. Der Showcase, heißt es zur ersten Ausgabe 2017, „entstand in einem Moment der Desillusionierung über neoliberale und liberale Illusionen, in einer Zeit der tiefen Krise der Demokratie und des Vertrauens in politische, soziale und wirtschaftliche Strukturen. Es ist die Zeit der Afterparty nach einer durchzechten Nacht, mit einem schweren Kater.“

Damals schaute man auch von Deutschland aus besorgt auf das an Theatern so reiche Land, hörte von zensierten Inszenierungen, ausgetauschten Intendanten, unterschrieb Protestbriefe und Solidaritätsbekundungen. Die Kulturpolitik der PiS, beschreibt die Theaterkritikerin Iwona Uberman diese Zeit auf nachtkritik.de, sollte „‚polnisch‘ sein, alte Traditionen beleben und auf Vaterlandsliebe, katholische Religiosität, patriarchal geprägte Familientreue, Ahnenkult und Tugendhaftigkeit setzen. (…) Das neu gebildete Narrativ verstand sich als Gegensatz zu der – wie es in der rechten Presse stets hieß – bisherigen Spaßkultur mit ihrer westlichen Porno- und Gendermanier (…) Man war bei der Wortwahl nicht zimperlich.“

Keine große Euphorie

Wer nach erfolgtem Regierungswechsel nun eine besonders große Euphorie im Programm des Showcases erwartet hatte, musste sich korrigieren. Die Künstlerinnen und Künstler, die bei dieser 8. Ausgabe vertreten waren, traten leiser auf, ohne große gesellschaftspolitische Geste, man könnte auch sagen: privater. Bereits 2017 verzeichnete das Festival eine „vorübergehenden Erschöpfung des kritischen Potenzials der Kunst“ in einer Zeit, in der gemeinsame Wahrheiten diffundierten. In dieser, wie es hieß, „Post-Truth-Ära“ stellte der Showcase stark personalisierte Aussagen von jungen Künstlerinnen und Künstlern in den Mittelpunkt – wie es durchaus auch in den freien performativen Künsten in Deutschland der Fall ist. Auch deshalb sind bei dem Showcase gerne auch Kuratorinnen und Kuratoren deutschsprachiger Produktionshäuser zu Gast.

Installation vor dem Theater Komuna Warszawa

Installation vor dem Theater Komuna Warszawa, einem der Spielorte des Festivals. Foto: Dorte Lena Eilers

Wie es die Lehre der Performancekunst so will, sind es auch hier die Performenden selbst, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen, oftmals solo, mit eigenen Erfahrungen, persönlicher Zeugenschaft sowie unter maximalem Einsatz des eigenen Körpers. In „Rapeflower“ etwa verhandelt die Performerin Hana Umeda die Erfahrung sexueller Gewalt. Als ästhetisches Mittel dient ihr der traditionelle japanische Tanz „Jiutamai“, der im 19. Jahrhundert ausschließlich von Frauen praktiziert wurde, denen im damaligen Japan, so erfahren wir aus dem Ankündigungstext, öffentliche Auftritte versagt waren, weswegen sie in privaten Teehäusern auftraten – „heute würde man sagen: als Sexarbeiterinnen“.

„Rapeflower“

Komplett nackt, exerziert Hana Umeda wieder und wieder die stereotypen Bewegungen dieses Tanzes durch, der den Frauen vorschrieb, Knie und Oberschenkel zusammenzupressen, die Arme eng am Körper, um die Brust zu verbergen, den Blick stets gesenkt. Ein Ausdruck kompletter Demut und Verfügbarkeit, wie eine scheue Blume, die bloß gepflückt werden will. Bei Umeda indes verändert sich der Tanz im Laufe der Zeit, die Bewegungen werden zackiger, der Fächer saust wie ein Schwert durch die Luft, während Umeda anfängt, wie eine Kung-Fu-Kämpferin zu atmen. Das enge Korsett explodiert. Aus dem persönlichen Fall wird mittels ästhetischer Übersetzung eine universelle Botschaft.

„Ich heiße Frau Troffea“

Um selbst erlittene Gewalt geht es auch in der Performance „Ich heiße Frau Troffea“ von Sergey Shabohin (Idee und Regie) und Igor Shugaleev (Idee und Performer). Die beiden aus Belarus stammenden Künstler erzählen darin von einer Flucht nach der gewaltvollen Niederschlagung der Massenproteste im Zuge der offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020. Sie adaptieren dabei eine mittelalterliche Geschichte, welche sich 1518 in Straßburg zugetragen haben soll. Eine Frau mit dem Namen Troffea verließ ihr Haus und begann urplötzlich zu tanzen. Sie tanzte Tag und Nacht wie ihm Wahn und löste in der ganzen Stadt eine Tanz-Hysterie aus.

So einfach diese Geschichte ist, so vieldeutig interagiert sie mit den Ereignissen der Flucht, die Igor Shugaleev auf der Bühne verkörpert. Die Tanz-Hysterie als Massenphänomen steht sinnbildlich für einen kollektiven Protest. Zu Beginn sehen wir, während Shugaleev, offenbar gerade der Dusche entstiegen, auf der Bühne einen kleinen Rucksack packt, Handyvideos der Proteste in Belarus, schnell geschnitten, wie ein unaufhaltsames Fanal. Dann Stationen seiner Flucht, Białystok, Warschau, Berlin. Dann seinen eigenen Eintritt in einen Zustand der Hysterie.

Im Berliner Exil entdeckt Shugaleev die Freiheit des Tanzens – ausgerechnet im berühmtesten und berüchtigsten Club Berlins, dem Berghain, wo neben dem Dancefloor gerne auch Drogen kursieren. Das Tanzen – Shugaleevs Körper zuckt zu peitschenden Beats und Stroboskoplicht nahezu dreißig Minuten lang – wird zum Akt der Befreiung, der alsbald etwas Zwanghaften erhält. Eine Überdosis Freiheit sozusagen, aus der die verzweifelte Suche nach einem Leben ohne Unterdrückung spricht.

„The Talking Car“

„Truth or Dare“ lautet das Motto des diesjährigen Showcases. Wahrheit oder Wagnis. Letzteres bestehe darin, erklärt das Festival, die Welt zu sehen. „Oder brauchen Sie uns, um die Spielregeln zu ändern?“ Dafür ist Theater, sind die performativen Künste in ihrer Ursubstanz immer zu haben. In „The Talking Car“, der ersten Inszenierung der bildenden Künstlerin Agnieszka Polska, die im Juni bereits bei den Wiener Festwochen zu sehen war, gibt es konsequenterweise gar keine Spielregeln mehr.

Die Performance startet in dunkelster Nacht. Einzig die Scheinwerfer eines Autos sind zu sehen, das sich scheinbar in gleichmäßiger Geschwindigkeit über einen verlassenen Highway bewegt. So suggeriert es ein Video, welches auf einem großen Screen hinter dem Wagen läuft. Rechts und links der Straße: ein Nichts, keine Menschen, kaum Gebäude. Die drei Insassen des Wagens versuchen sich die Zeit mit einem Märchen zu vertreiben. Sind es Vater, Mutter, Kind? Drei Gangster oder drei Cyborgs?

Das Roadmovie von Agnieszka Polska, dem Albano Jerónimo, Iris Cayatte und Bartosz Bielenia eine Stimmung beständiger Ungewissheit verleihen, als entstammten sie einem Film von Quentin Tarantino oder David Lynch, lässt das Publikum komplett im Dunkeln. Ständig ändern sich Figurenzuschreibungen und Plotline, Zeit und Raum sind aus den Fugen. Das Kind auf der Rückbank wird zum Fremden, dessen gestörte Erinnerungen wie eine kaputte KI funktionieren, während Marlene, die Auto-KI, mit der menschlichen Stimme der verstorbenen Großmutter spricht. „The Talking Car“ ist ein atmosphärisch dichtes Verwirrspiel um den Zustand unserer Gegenwart, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, vertraut und fremd, Gestern und Morgen zunehmend verschwimmen.

Das Erkämpfen von Zukünften ist in vielen Performances des Showcases mit größter Dringlichkeit zu spüren. Wie in „Threesome“, einem Tanzstück, in welchem Wojciech Grudziński in einem fast vierzigminütigen, schweißtreibenden Bewegungsexorzismus dem klassischen Ballett seine standardisierten Regeln austreiben will. Er erinnert dabei an die einst im kommunistischen Polen arbeitenden Tänzer Stanisław Szymański, Wojciech Wiesiołłowski und Gerard Wilk, die als ästhetische Erneuerer von der Nomenklatura als Clowns, Freaks und Perverse beschimpft wurden. „The power of three will set us free“ lautet der Soundtrack zu diesem Stück.

Der Kulturpalast in Warschau. Foto: Dorte Lena Eilers

„Heidegger?Denaturate“

So präsentieren sie sich hier, die Künstlerinnen und Künstler der „Generation danach“: als Performerinnen und Performer, die sich verausgaben. Die den Exorzismus stellvertretend an sich selbst vollziehen und durch die Arbeit an der eigenen Kondition symbolisch für eine andere, kraftvollere Zukunft stehen. Und die Politik? Iwona Uberman fragt auf nachtkritik.de: „Die Szene wird politisch aufatmen, aber angesichts der massiven Herausforderungen, vor denen die Politik stehen wird, wird sie sich um die Theater kümmern?“

Der Showcase jedenfalls, der, ausgenommen 2021 und 2023, hauptsächlich städtisch gefördert wurde – in Warschau regiert seit 2018 eine neu geschaffene Koalitionspartei aus der liberal-konservativen Bürgerplattform, der wirtschaftsliberalen Partei Moderne und den Grünen – wird in diesem Jahr auch vom staatlichen Ministerium finanziert. Geld bzw. deren Mangel ist jedoch nach wie vor ein Thema. Zumindest aber dem politischen Blut-und-Boden-Nationalismus der ehemaligen Regierungspartei ging es auf dem Festival an den Kragen. In „Heidegger?Denaturate“ von Mirosław Bałka und Katarzyna Krakowiak stampften fünf Performerinnen und Performer Heideggers Begriffe von Blut, Erde, Führung und Gefolgschaft in einen zuvor aufgeschütteten Erdboden, als wollten sie derartige Ideen für immer begraben.

Die Teilnahme der Autorin am „Generation After“ Showcase wurde durch den Veranstalter kofinanziert.